''Wir sind jetzt Akteure, nicht bloß Motive''
Herr Harbi, Ihre jüngsten Fotografien, die vor kurzem in Deutschland ausgestellt wurden, haben Sie sozusagen in der heißesten Phase der Proteste in Tunesien gemacht, zwei Tage und vier Tage nach dem Sturz von Ben Ali. War das nicht gefährlich?
Harbi: Ich habe die Proteste schon seit ihrem Ausbruch in Dezember 2010 von Deutschland aus – per Internet und Telefon – mitverfolgt. Aber irgendwann im Januar habe ich gedacht, ich muss dahin. Ich nahm den letzten Flug nach Tunis und ging gleich auf die Avenue Habib Bourguiba, um diese Momente der Revolution mit meiner Kamera festzuhalten. Gefährlich war es schon, aber ich kenne mich in Tunis sehr gut aus, im Gegensatz zu ortsfremden Reportern. Die anderen Kollegen und ich haben uns organisiert. Aber, natürlich, es war gefährlich.
War Ihnen bewusst, dass sie gerade dabei waren, einen radikalen Wendepunkt in der Geschichte Tunesiens zu erleben?
Harbi: Wir haben es geahnt. Es war klar, dass das Regime gestürzt wird, aber uns hat es doch schon überrascht, wie schnell Ben Ali gegangen ist.
Sie sind während der Straßenproteste den Menschen sehr nahe gekommen und haben auch verletzliche und intime Momente fotografiert. Wie haben die Menschen darauf reagiert?
Harbi: Ich bin sehr intuitiv vorgegangen. Ich habe nicht an die Bildkomposition oder die ästhetischen Aspekte gedacht. Ich wollte nur den Menschen so nah wie möglich sein.
Ich wollte die wahren Ausdrücke, die Momente der Spannung, des Mutes und der Angst festhalten. Interessant war die Reaktion der Polizisten; als ich mich ihnen annäherte, riefen sie zu uns Journalisten: "Ihr seid unser Ende", das heißt, sie hatten Angst vor uns, weil wir die Wirklichkeit zeigten wie sie war.
Wie bewerten Sie die Rolle von Bildern in der tunesischen Revolution? Kann man von einer Bilder-Revolution sprechen?
Harbi: Das ist eine interessante, aber komplizierte Frage. Wir haben 23 Jahre lange mit einem einzigen Bild gelebt, nämlich dem Porträt des Präsidenten. Dieses Bild hat sich sogar in unser Unterbewusstsein eingebrannt. Fotografieren war eine riskante Sache in Tunesien. Wer auf die Straße ging und irgendetwas fotografieren wollte, bekam es oft bald mit der Zivilpolizei zu tun. Die Regierung hatte eine paranoide Angst vor Bildern, denn Bilder hätten die ungeschminkte Realität gezeigt, und nicht die Realität, wie das Regime sie darstellen wollte.
Jetzt, nach der Revolution, entdecken die Menschen die tiefere, ja vielleicht die philosophische Bedeutung des Bildes. Sie gehen auf die Straße und machen Bilder. Sie entdecken, dass sie selbst die Akteure sind und nicht nur die Motive.
Seit dem Ausbruch der Revolution in Tunesien ist ein Jahr vergangen. Wie sehen Sie die Situation in Tunesien momentan?
Harbi: Es ist seitdem viel passiert. Am wichtigsten ist es, dass die psychologische Sperre in den Köpfen der Menschen verschwunden ist. Die Zeit der Angst ist vorbei. Jetzt ist die Zeit der schwierigen Aufgaben; auf uns kommt ein politischer Kampf zu, wir müssen das Land neu aufbauen, eine neue Verfassung schreiben und vieles andere mehr.
Die Leute sind schon seit einem Jahr auf der Straße und sind müde geworden. Andere Akteure nutzen das aus, politische Parteien zum Beispiel, die sich nach der Revolution auf die Schnelle gegründet haben, oder Islamisten, die aus dem Ausland kamen und sich nun ins gemachte Nest setzen.
Die Lage ist unübersichtlich, aber Tunesien ist jetzt ein Labor für Demokratie; es ist ein Experiment, und wir schauen, was kommt. Wenn es gelingt, könnte es ein Vorbild für Ägypten und andere arabische Staaten werden. Ich bin optimistisch.
Einige Beobachter fürchten momentan, dass die Islamisten wichtige Errungenschaften der letzten Jahre in Tunesien, wie zum Beispiel die Frauenrechte, rückgängig machen. Wir real ist diese Angst?
Harbi: Ben Ali hat es während seiner Zeit geschafft, die absolute Macht an sich zu reißen und andere politische Akteure ausgeschaltet, wie die islamistisch orientierte Ennahda-Partei, von der die meisten Akteure ins Exil gegangen sind. Diese Leute sind zwar keine Dämonen, aber auch keine Engel. Sie sind Profi-Politiker, gut organisiert und vernetzt, und sie haben viel Geld.
Sie haben natürlich einen fortschrittlichen und einen eher konservativen Flügel. Aber sie wurden gewählt und haben jetzt eine einzige Chance, um sich zu beweisen. In einem Jahr finden Neuwahlen statt, und wenn sie einen Fehler machen, sind sie gleich wieder weg.
Aber schlimmer als sie sind die Salafisten, die uns fremd sind. Sie sind aggressiv und machen mir Angst. Und alle Tunesier fragen, sich, woher diese Leute kommen, wer sie finanziert, und warum sie ausgerechnet jetzt kommen. Diese Leute sind der weltoffenen tunesischen Kultur fremd.
Die Bloggerin Lina Ben Mhenni sagt, eine Revolution ist in Tunesien noch nicht wirklich da. Die politische Revolution muss noch kommen.
Harbi: Für mich war sie eine Revolution, aber es war nur ein erster Schritt. Zwei Sachen müssen noch passieren: Erstens: eine kulturelle Revolution; das heißt, die Kunst muss uns jetzt den Spiegel vorhalten. Und zweitens brauchen wir eine wirtschaftliche Revolution, denn die Wirtschaft liegt am Boden, und das ist auf längere Sicht gefährlich.
Der Demokratisierungsprozess ist jetzt in vollem Gang, mit all seinen Höhen und Tiefen. Aber man muss weitergehen. Ich bin skeptisch, habe aber keine Angst. Was in Tunesien passiert ist, ist einfach großartig. Die ganze Welt schaut nach Tunesien, und alle sind gespannt, wie es sich dort nun weiter entwickeln wird.
Wie wird sich die Aufgabe der Künstler in dieser Entwicklung gestalten, wo sie jetzt diese neue Freiheit erlangt hat?
Harbi: Kunst kann der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, ihr Fragen stellen und damit kritische Diskussionen initiieren. In dieser neuen Phase des Nation Building in Tunesien, die die so wichtige Frage nach der Identität stellt, brauchen wir Kunst und Künstler mehr denn je. Kunst bringt uns zum Nachdenken über den Demokratisierungsprozess, in dem wir jetzt stecken.
Aber Künstler brauchen staatliche Förderung, sonst gehen sie anderswo hin. Deshalb sage ich zum wiederholten Mal: Wir brauchen eine kulturelle Revolution und müssen einsehen, dass Kunst als etwas Essentielles und nicht als Luxus angesehen werden muss.
Interview: Nader Alsarras
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de