Universale Grenzgängerin
In einem Interview am Rande der "Poetry Parnassus" in London meinten Sie, Sie könnten mit Protestlyrik nicht viel anfangen. Und doch lassen sich einige Ihrer Gedichte in gewisser Weise als Protest lesen. Warum wollten Sie sich von Protestlyrik distanzieren?
Iman Mersal: Als Schriftstellerin möchte ich mich in keiner Weise von irgendeiner Art Lyrik distanzieren. Doch als Leserin kann ich über eine Lyrik sprechen, zu der ich keinen Draht habe. Ich bin aufgewachsen mit den großen Narrativen über die Nation, über die Zukunft – aufgeladen mit viel Ideologie. So studierte ich beispielsweise in meinem Masterstudiengang Adonis (Ali Ahmad Said Esber, ein syrisch-libanesischer Lyriker und Intellektueller/Anm. d. Redaktion). Ich blieb bis spät in die Nacht wach und las Lyrik, zu der ich keine Beziehung entwickeln konnte. Trotz ihrer Schönheit, ihrer Sprache und ihrer Bilder. Adonis ist ein großer Dichter. Ein Prophet, der die Welt durch Wandel der arabischen Sprache und Kultur zu verändern sucht. Aber er spricht nicht zu mir.
Ich hatte mit anderen Dingen zu kämpfen: Dem Wunsch, mich selbst zu verstehen, dunkle Momenten im Alltag zu bewältigen und meine Erinnerungen zu ordnen. Mich beschäftigte mehr die komplizierte Beziehung zu meinem Vater, Freundschaften, Autoritäten im weiteren Sinne, also nicht nur religiöse oder politische. Ich entdeckte das eigene Ich und suchte meine eigene Stimme.
Mit welchen Autoren außer Adonis sind Sie außerdem aufgewachsen?
Mersal: Im Allgemeinen lese ich nicht so viele Gedichte. Allerdings lese ich schon seit der High School Werke aus dem Goldenen Zeitalter der arabischen Lyrik. Auch moderne arabische Dichter, wie beispielsweise Mahmoud Darwish, Amal Donqol und Salah Abd as-Sabur.
Vergangenes Jahr schrieb ich einen Artikel über die syrische Dichterin Sania Saleh. Dabei dachte ich immer, wie schade es ist, dass ich als junges Mädchen glaubte, es gebe keine modernen arabischen Lyrikerinnen für mich. Bis ich Sania Saleh las. Das ist ungefähr drei Jahre her. Das ist doch erstaunlich: Warum war diese Lyrik für mich als junge Leserin damals nicht zugänglich? Wenn ich sie als junges Mädchen hätte lesen können, wäre das ganz wunderbar gewesen.
Welches Spektrum lesen Sie heute? Ist es wichtig, ein breites Spektrum zu lesen?
Mersal: Das ist nicht nur wichtig, sondern eine der größten Freuden überhaupt. Als Jugendliche lasen wir übersetzte Dichtung. Auch wenn einige dieser Übersetzungen ziemlich dürftig waren, so übten sie dennoch eine Wirkung auf uns aus. Wir entdeckten damit die Vielfalt dessen, was wir Lyrik oder Dichtung nennen. Dazu zählten beispielsweise Constantine Cavafy, W. B. Yeats, Wisława Szymborska, Emily Dickinson, Nicanor Parra, Anna Akhmatova.
Wie lernen Sie heute neue Stimmen kennen?
Mersal: Ich verfolge die arabische Lyrikszene intensiv und enthusiastisch. Es gibt derzeit so viele hervorragende weibliche Lyrikerinnen, die es zu lesen lohnt. So habe ich in jüngster Zeit beispielsweise Aya Nabih, Asmaa Yassen und Malaka Badr gelesen. Nicht arabische Lyrik lese ich als englische oder arabische Übersetzung. Außerdem nehme ich an internationalen Lesungen teil. Man begegnet so vielen Dichtern, aber es gibt letztlich nur wenige, die man wirklich bewundert und mit denen man sich im Dialog fühlt.
So traf ich beispielsweise die mazedonische Dichterin Lidija Dimkovska 2003 auf dem "Poetry International Festival Rotterdam". Anschließend begegnete ich ihr zweimal in Ljubljana und seither sind wir miteinander befreundet. Andere Dichter, denen ich auf ähnlichen Veranstaltungen begegnete und die ich sehr empfehlen kann, sind die Albanerin Luljeta Lleshanaku, die ich 2012 auf der "Poetry Parnassus" in London traf, den Dominikaner Frank Baez und die Chilenin Nadia Prado, der ich im selben Jahr in Nicaragua begegnete. Auch in Edmonton, meiner heutigen Heimatstadt in Kanada, gibt es einige sehr gute Lyriker, wie Bert Almon und Shawna Lemay. Einen guten Lyriker oder ein gutes Gedicht zu entdecken, empfinde ich immer als Geschenk.
Gibt es eine Literaturszene, der Sie sich besonders nahe fühlen?
Mersal: 2007 war ich zu einer unabhängigen Lyriklesung namens "Days of Poetry and Wine" in Slowenien eingeladen. Ich war dort die einzige arabische Dichterin. Die Arbeiten der Teilnehmer wurden vor der Veranstaltung übersetzt und dann auf Englisch, Slowenisch und in der Originalsprache veröffentlicht. So konnten wir alle Gedichte tatsächlich lesen und verstehen, mit denen wir dort unsere Tage verbrachten.
Mir war, als habe sich ein Fenster geöffnet. Es gibt so viele Ähnlichkeiten bei den Fragen und Bildern zwischen jenen Gedichten und der arabischen Lyrik seit den 90er Jahren. Können Sie sich eine Lyrikerin vorstellen, die in den 1990er Jahren im postkommunistischen Rumänien lebte, und mich, die ich während des Niedergangs so vieler Ideologien in Kairo lebte? Man denke beispielsweise an den arabischen Nationalismus, den Irakkrieg und die palästinensischen Konflikte. Wir haben praktisch dieselbe Grenze überschritten. Ich empfand uns als Persönlichkeiten, die dieselben prägenden Momente in ihren jeweils eigenen Kulturen erfahren haben.
Sie haben niemals Lyrik übersetzt. Nur Prosa. Gibt es dafür einen Grund?
Mersal: Ich traue mich nicht an die Übersetzung von Lyrik heran. Ich habe das wohl immer als große Verantwortung gesehen. Mittlerweile denke ich aber anders darüber. Vielleicht war ich da ein bisschen zu ängstlich.
Würden Sie lieber von jemandem übersetzt werden, der kein Lyriker ist?
Mersal: Das Übersetzen ist immer mit einem gewissen Unbehagen verbunden. Schließlich überträgt man einen Text aus einer Kultur in eine andere. Das gilt auch für die Übersetzung meiner Werke durch Khaled Mattawa, der mir sehr nahe steht. Es gab Momente, in denen ich dachte: Er ist ein wunderbarer Lyriker und Übersetzer. Werden deshalb zwei Stimmen in meinen Gedichten miteinander ringen – seine und meine? Bei einem Übersetzer, der kein Lyriker ist, hätte ich andere Bedenken.
Nach einiger Zeit muss man seine Gedichte aus der eigenen Obhut in andere Sprachen und Kulturen entlassen. Man stellt sich vor, dass die eigene Stimme durch die Atmosphäre in weit entfernte Ohren dringt. Wie sollten wir bestimmen können, wie unsere Stimme dorthin gelangt? Jene Sprache kann sich weicher oder langgezogener anhören als die eigene. Sie kann sehr eloquent sein, so als gehöre man einer Elite an. Ein Übersetzer, der mein Gedicht auswählt und darüber brütet, wie er es in seine eigene Sprache überträgt, hat das Recht, es umzuschreiben. So lange der Klang meiner Stimme die Reise an das neue Ziel übersteht.
Das Interview führte Marcia Lynx Qualey.
© Qantara.de 2016
Übersetzung aus dem Englischen von Peter Lammers