Botschafterin der Chaouia-Kultur
War das Singen ein Teil Ihres Alltagslebens? War es ein Leichtes für Sie, die traditionellen Lieder zu erlernen?
Houria Aïchi: Ich bin in einer traditionellen Familie geboren, in der der volkstümliche Gesang eine wichtige Rolle spielte, und zwar hörte man fast täglich diese Gesänge. Wir Frauen lebten in einem großen Hof, wo ein soziales und künstlerisches Leben stattfand. Dort war es, wo ich das Singen kennen und lieben gelernt habe. Die Kultur, in der ich aufwuchs, war geprägt von familiärem Zusammenhalt, von einem strikten Ehrenkodex und von einer Gesangstradition, wie sie nur in dieser speziellen Region existiert.
Hatten die Frauen dort mehr Freiheiten als in anderen Gebieten? Können sie ein relativ unabhängiges und selbstbewusstes Leben führen?
Aïchi: Ich komme aus einem kleinen Dorf, wo die Frauen bereits zurückgezogen in ihrem Hof lebten. Aber auf dem Land arbeiteten auch die Frauen auf den Feldern. Sie waren nicht verschleiert, ihr Gesicht war also zu sehen und sie arbeiteten ganz normal auf den Feldern. Ob man sagen kann, dass sie mehr Freiheiten besaßen, weiß ich nicht, aber sie waren nicht eingeschlossen und konnten sich frei bewegen.
Waren die Frauen im Hof denn unter sich?
Aïchi: Ja, die Männer verließen morgens das Haus und kehrten nicht vor dem Abend zurück. So war uns der Raum für den Tag überlassen, und dort spielten sich viele Dinge ab. Abgesehen von vielem gemeinsamem Lachen und der Erziehung der Kinder fand ein sehr intensives kulturelles und künstlerisches Leben statt. Die Frauen sangen, machten Musik und Webarbeiten. Im Frühling und im Sommer stand hinten im Hof ein Webstuhl und alle Frauen gingen dahin und woben, wenn ihre Zeit es zuließ. Im Hof wurde auch getöpfert.
Insgesamt gingen die Frauen also vielen künstlerischen Aktivitäten nach. Wir spielten Theater, rezitierten Gedichte, erzählten Geschichten, stickten und töpferten. Manchmal imitierten wir sogar die Männer und machten uns über sie lustig.
Die Leidenschaft zu singen gehört zu Ihrem Familienerbe, das Sie nun in der dritten Generation fortführen. Ihre Großmutter war eine weithin geschätzte Sängerin. Kam diese Leidenschaft von ihr?
Aïchi: Meine Großmutter starb, bevor ich professionelle Sängerin wurde, aber sie hat eine sehr, sehr wichtige Rolle in meiner musikalischen Erziehung gespielt. Doch ist sie eben leider vorher verstorben. Sie hat mir als Kind beigebracht zu singen, denn ich habe sie zu den Hochzeiten und Beschneidungszeremonien begleitet und dort mit ihr und den anderen Frauen gesungen. Eigentlich hat sie mich also doch schon singen hören.
Haben die Frauen dort eigene Lieder, die nicht von Männern gesungen werden?
Aïchi: Es gibt zwei Repertoires. Es existiert ein weibliches Repertoire und ein männliches Repertoire. Die Frauen haben auch oft die Texte der Männer gesungen. Umgekehrt habe ich allerdings noch nie einen Mann einen weiblichen Text singen hören. Doch generell lässt sich sagen, dass es ein weibliches und ein männliches Repertoire gibt.
Sind Sie immer noch sehr mit Ihrer Region verbunden, obwohl Sie seit mehr als 40 Jahren in Frankreich leben?
Aïchi: Ich habe diese Region nie wirklich verlassen, weder emotional, weil meine ganze Familie noch dort lebt, noch sozial, weil ich dort noch viele Freunde aus der Schulzeit habe sowie Nachbarn, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich habe also nie mit dieser Region gebrochen. Durch den Gesang bin ich wieder in diese Region eingetaucht, da ich oft dorthin reisen musste, um die Lieder aufnehmen und sie anschließend bearbeiten zu können.
Dabei bin ich auf die denkbar einfachste Weise vorgegangen: Ich reiste nach Batna und habe die Nachbarn und die Familie besucht. Wenn ich aus Frankreich zu Besuch kam, versammelten sich die Leute zur Begrüßung – so wie es bei uns üblich ist – und diskutierten, tranken Kaffee und aßen. Am Nachmittag – das ist ebenfalls sehr typisch – begannen sie dann zu singen. Ich habe diese Gesänge auf dem Diktiergerät aufgenommen und bin damit nach Paris zurückgekehrt, um damit zu arbeiten. Es lag mir fern, auf dem Land einfach nur herumzureisen. Im Gegenteil: Jetzt, wo die Leute meine Arbeit kennen, schicken sie mir ihre gesammelten Sachen sogar zu.
Sie hatten eigentlich nicht vorgehabt, Sängerin zu werden. Sie studierten in Constantine und Algier Soziologie. 1970 gingen Sie nach Paris und setzten dort Ihr Studium fort. Dann besannen Sie sich auf die Tradition Ihrer Familie. Wie kam es dazu?
Aïchi: Das ist eine sehr schöne Geschichte, die ich oft erzähle, weil sie sich tatsächlich so ereignet hat. Ich habe die Angewohnheit, auf Festen von Freunden zu singen. Nach dem Essen fordert man mich in der Regel dazu auf zu singen. Als es nach dem Essen auf einer Geburtstagsfeier eines Freundes wieder hieß: "Houria, sing' uns ein Lied!" habe ich einfach a capella gesungen. Danach kam eine Frau zu mir, die ich nicht kannte und sagte zu mir: "Ich bin die Leiterin des Zweiten Internationalen Festivals für Musik und Gesang der Frauen in Paris, und ich möchte sie einladen, daran teilzunehmen."
Das war im Februar 1984 und das Festival fand im Juni statt. Ich hatte also vier Monate Zeit, eine Live-Show vorzubereiten. Zu meinem großen Glück sagte ich zu. So hat meine Karriere als Sängerin begonnen.
Wovon handeln Ihre Lieder?
Aïchi: Es sind im Grunde genommen volkstümliche Dichtungen, die von mir musikalisch umgesetzt werden. Die Themen dieser volkstümlichen Dichtung sind sehr klassisch es sind die der bäuerlichen Gesellschaft in den Bergen. Es handelt sich um grundlegende Themen, natürlich geht es auch um die Liebe. Auch erfanden die Frauen während des algerischen Befreiungskriegs Hunderte, wenn nicht gar Tausende Lieder, um ihre Männer zu glorifizieren, die fortgegangen waren, um den Kolonialismus zu bekämpfen. Das hat auch meine Arbeit beeinflusst.
Auch existieren viele Gesänge über das Exil, denn in den Berbergesellschaften der Kabylei und im Aurès, die sehr arme Regionen waren, kam es häufig vor, dass die Männer ihre Heimat verließen, um insbesondere in Frankreich zu arbeiten. Es handelt sich inhaltlich also um ein großes Repertoire.
Wird diese Tradition dort immer noch gepflegt oder sind bereits viele dieser Traditionen verloren gegangen?
Aïchi: Die Stadt, aus der ich komme, war einmal sehr klein und hat sich heute immens vergrößert. Man hat sich von den bäuerlichen Traditionen etwas distanziert, doch Bruchstücke dieser Kultur bleiben natürlich erhalten – wie etwa die Tradition der Reiter oder die Tradition der sogenannten Baroud, die in die Lüfte schießen, um damit ihr Ehrgefühl auszudrücken. Alle dies ist in der ländlichen Kultur immer noch sehr präsent.
Überhaupt lebt diese Musik vom Rhythmus. Er ist es, der das Publikum mitreißt und begeistert. Das weckt Reminiszenzen an afrikanische Klänge…
Aïchi: Die Perkussion spielt eine zentrale Rolle in den Chaoui-Gesängen, und tatsächlich habe ich während meiner Arbeit und im Prozess des Sammelns oft afrikanische Klänge wiedererkannt. Aber ist das nur wegen der engen Bindung zu Afrika?
Natürlich gibt es einen afrikanischen Einfluss, das ist gewiss, aber ich glaube, dass es auch andere Einflüsse gibt. Man erkennt oft beispielsweise Rhythmen, die an den Galopp der Pferde erinnern. Ich finde diese Verbindung wichtig, weil die Pferde eine wichtige Rolle bei den Chaouis im Aurès spielen. In der Chaoui-Kultur ist das Pferd von zentraler Bedeutung. Ich frage mich manchmal daher, ob es im Rhythmus nicht etwas gibt, das an den Galopp der Pferde erinnert.
Die Pferde sind auch Thema Ihrer letzten Arbeit. Mit Ihrer CD "Cavaliers de l'Aurès", Reiter des Aurès, beschwören Sie die Mythologie der Chaouia, das Leben der berittenen Schäfer, die auch Krieger sein konnten.
Aïchi: Ja, meine letzte CD handelt von den Reitern. Es ist auch der Titel des Albums, und alle Stücke behandeln dieses Thema. Der künstlerischen Leiterin meines Produktionshauses habe ich gesagt, – und damit komme ich auf den afrikanischen Einfluss in der Chaouia-Kultur zurück – dass ich, wenn ich singe und die Trommel höre, gleichzeitig auch Jazz-Töne und afrikanische Klänge höre. Also hat sie mich mit einer Gruppe junger Musiker aus Straßburg bekannt gemacht, und wir haben auf Instrumenten, die sich sehr von den Instrumenten im Aurès unterscheiden, ein Album und eine Tournee zusammengestellt, und sind damit unter anderem auch nach Brasilien gefahren.
Wie wurde Ihre Arbeit bisher in Algerien aufgenommen? Treten Sie manchmal auch in Ihrer Heimat auf?
Aïchi: Heute singe ich sehr oft in Algerien – mindestens einmal, wenn nicht sogar zweimal pro Jahr, und ich glaube, dass man anerkennt, welche Arbeit ich geleistet habe, um das Ausland mit diesem Repertoire bekannt zu machen, ebenso die Ausdauer und die Anstrengung, diese Arbeit fortzuführen und die Freude, die ich daran finde, sie in die Ferne zu tragen.
Interview: Suleman Taufiq
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de