Der lange Weg zur Anerkennung
Bei den Protesten, die im Jahr 2011 im Zuge der Volksaufstände in großen Teilen Nordafrikas und des Nahen Ostens auch Marokko erfassten, spielten die Anliegen der Berber Marokkos eine wichtige Rolle. Die Bewegung, die aus verschiedenen Untergruppen besteht, schloss sich damals den Demonstranten des 20. Februar an, um sie bei ihrem Kampf für Freiheit und gegen Korruption zu unterstützen.
Die marokkanische Amazigh-Bevölkerungsgruppe ist die größte in ganz Nordafrika. Etwa die Hälfte aller Marokkaner gehört ihr an. Ihre Gemeinschaften sind über das ganze Land verteilt, am stärksten sind sie in der Souss-Ebene, im Rif und im ländlichen Atlas-Gebirge vertreten.
Anerkennung als Amtssprache
Führende Aktivisten und Intellektuelle der Amazigh argumentieren schon lange, die Demokratisierung des marokkanischen Königreichs könne nur dann Fortschritte machen, wenn ihre Volksgruppe nicht weiter marginalisiert wird. Um ihren Forderungen nach Anerkennung ihrer Kultur und ihrer eigenen Sprache ("Tamazight") Ausdruck zu verleihen, hatte sich Marokkos Berberbewegung bereits vor einigen Jahrzehnten politisch organisiert.
Viele Menschenrechtsvertreter führen die weit zurückreichende institutionelle Diskriminierung auf die Arabisierungspolitik in der Zeit nach Marokkos Unabhängigkeit zurück. Sie behaupten, indem Arabisch zur offiziellen Landessprache ernannt wurde, sei nicht nur das kulturelle Erbe der Amazigh ignoriert worden. Auch habe man ihre Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten eingeschränkt. Außerdem würden sie innerhalb von Staat und Verwaltung benachteiligt, insbesondere in juristischer Hinsicht.
Während der 1970er Jahre begann die Amazigh-Bewegung allmählich Druck auf den Staat auszuüben, um Tamazight neben dem Arabischen gleichberechtigt in die Verfassung mit aufzunehmen. Radikalere Berber gingen sogar noch einen Schritt weiter: Sie versuchen bis heute, in allen offiziellen Angelegenheiten das Arabische durch ihre eigene Sprache zu ersetzen, darunter auch in Schulen und in den Medien. Laut Volkszählungs-Statistiken sprechen heute rund 30 Prozent aller Marokkaner einen Tamazight-Dialekt. Kritiker dieser Erhebungen behaupten jedoch, dass diese Zahl sogar noch wesentlich höher sei.
Die Skepsis bleibt
Dass in Marokko mittlerweile die Verfassung geändert wurde, um auch den Forderungen der Amazigh zu entsprechen, war mit Sicherheit ein Signal für eine politische Kurskorrektur des Staates. Die Verfassungsänderungen, im Zuge derer die Sprache und Kultur der Amazigh anerkannt wurden, wurden denn auch von prominenten Vertretern der Bewegung als "größter Fortschritt betrachtet, der in den letzten Jahrzehnten für die Belange der Amazigh erreicht wurde". Allerdings wird ihr Optimismus durch eine anhaltende, tiefe Skepsis gedämpft, die auf ihre früheren Erfahrungen mit dem marokkanischen Königshaus zurückgeht.
Als Mohammed VI. im Jahr 2002 das "Königliche Institut für Amazigh-Kultur" gründete, wurde dies von manchen als Versuch gewertet, die Agenda der Amazigh zu monopolisieren und ihre Bewegung zu fragmentieren. Dementsprechend waren die Amazigh über die Zugeständnisse des Könighauses stets geteilter Ansicht. Manche von ihnen waren mit der staatlichen Politik einverstanden, andere hingegen misstrauten dem König und dessen Gewohnheit, politische Oppositionelle gegeneinander auszuspielen.
Weiterhin erkannten die Aktivisten, dass auf die neuen Verfassungsinhalte keine klaren Umsetzungsmechanismen folgten. Sie machten sich Sorgen, dass staatliche Eliten, die die Forderungen der Amazigh ablehnten, alle juristischen Prozesse zur weiteren öffentlichen und administrativen Verbreitung der Berbersprache blockieren könnten.
Die Versuche der Berberbewegung, ihre Agenda in den nationalen politischen Diskurs einzubringen, werden von hochrangigen marokkanischen Politikern bis heute kritisiert. Sie werfen den Aktivisten vor, ethnische Spannungen zwischen den Marokkanern zu schüren und die Bindung der Nation an die arabisch-islamische Gemeinschaft untergraben zu wollen.
Viele Amazigh setzen sich für einen säkularen Staat und ein föderales Regierungssystem ein, bei dem der sogenannte Makhzen einen Teil seiner Kontrolle über die marokkanische Politik abgeben müsste. Bereits vor Jahren hat sich die ehemalige Demokratische Partei der Amazigh in Marokko für Säkularismus und Föderalismus eingesetzt, bevor sie 2008 - gemeinsam mit anderen ethnisch geprägten Parteien - verboten wurde.
"Tamazight" – die marginalisierte Sprache
Seit den Verfassungsänderungen und den damit verbundenen Unsicherheiten tritt die Enttäuschung der Amazigh umso stärker zum Vorschein. Sie fühlen sich zunehmend allein gelassen, da die von ihnen erhofften Reformen nur sehr schleppend umgesetzt werden.
In einem Bericht der landesweiten Föderation der Amazigh-Verbände in Marokko wird angemerkt, dass "die Amazigh durch das marokkanische Recht in vielen administrativen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereichen noch immer diskriminiert werden". Dazu gehören "eindeutig diskriminierende Regelungen gegen ihre Sprache und Kultur".
In dem Bericht wird auch kritisch angemerkt, dass in Gesetzesentwürfen das Mitbestimmungsrecht nicht geregelt wird, das nötig ist, um Tamazight zur offiziellen Sprache zu machen. In öffentlichen und staatlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Polizeistationen und Gerichten herrscht weiterhin die arabische Sprache vor. Auch auf staatlichen Webseiten, in den Medien, in der Werbung und sogar auf Straßenschildern ist in Marokko das Tamazight kaum zu finden.
Unterdessen wird geschätzt, dass nur 12 Prozent der Grundschüler in Tamazight unterrichtet werden, obwohl die Sprache 2003 in die nationalen Lehrpläne aufgenommen wurde. Zwar gibt es – insbesondere in Gebieten mit einer Amazigh-Bevölkerungsmehrheit – staatliche Programme, um die Sprache zu fördern. Dies hat aber kaum Folgen, da die Lehrer in der Regel zu schlecht ausgebildet sind und es unterschiedliche Ansichten darüber gibt, wie die Sprache standardisiert werden soll.
Trotz dieser Rückschläge bleibt die Bewegung weiterhin aktiv und hält an ihren Forderungen fest. Die Amazigh lenken ihre Aufmerksamkeit zudem verstärkt auf Themenfelder wie die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, der Umgang mit Landrechten sowie die staatliche Enteignungs- und Privatisierungspolitik.
Die Proteste im Rif-Gebirge nach dem Tod eines Fischhändlers vom letzten Oktober dauern weiterhin unterschwellig an, und durch die stetige Militarisierung in der Region werden die Forderungen nach einem Ende der Ungerechtigkeit und Unterdrückung immer stärker.
Im Hohen Atlas protestieren die Einwohner von Imider nach wie vor gegen ein Minenprojekt des Königshauses, das sie für Umweltverschmutzungen und Gesundheitsschäden verantwortlich machen. Im benachbarten Tinghir ist im vergangenen Monat ein dreijähriges Mädchen gestorben, da es nicht ausreichend medizinisch versorgt werden konnte. Hier setzen vor allem die Amazigh-Gemeinschaften in der Region an, um gegen wirtschaftliche und soziale Marginalisierung politisch vorzugehen.
Beim letztjährigen "Tawada"-Marsch in Rabat war das bedeutendste Thema die ökonomische und soziale Ungerechtigkeit in Marokko. Amazigh-Aktivisten gingen in der Hauptstadt auf die Straße, um "die Korruption, den Raub von Ressourcen und die Diskriminierung gegen die Amazigh zu beenden".
Im kommenden Monat ist es sechs Jahre her, dass die marokkanische Verfassung geändert wurde. Was als flüchtiges Versprechen für die Amazigh-Bewegung begann, mit anderen politischen Gruppen des Landes Allianzen bilden zu können, läuft nun Gefahr, die Polarisierung im Land noch weiter zu verstärken.
Matthew Greene
© Qantara.de 2017
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff