"Ich schreibe frei, wie ich im Traum fliege"
Frau Alem, Sie haben rund ein Dutzend Romane geschrieben, dazu Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Wie kommt es, dass Sie sich der deutschsprachigen Leserschaft erst jetzt mit Ihrem Roman "Das Halsband der Tauben" vorstellen?
Raja Alem: Für alles gibt es eine Zeit. Verleger müssen Vertrauen setzen in die Bücher, die sie für ihr Leserpublikum herausbringen. Die arabische Literatur ist mit Vorurteilen und Klischees behaftet. Innerhalb dieser Klischees fühlen Verleger sich sicher. Bücher aber, die aus diesem Rahmen fallen, meiden sie. Meine Romane wurzeln tief im Geist meiner Heimatstadt Mekka, dieser unerforschten Welt. Ich schöpfe aus ihren Mythen, ihrer Geschichte und ihrer Philosophie und das alles in einer Sprache, die wie Texte des Sufismus entschlüsselt werden muss. Das ist beinahe unmöglich zu übersetzen. Also brauche ich einen abenteuerfreudigen Verleger und einen kenntnisreichen Übersetzer, der meine Welten und meinen Stil für ein deutschsprachiges Publikum übertragen kann.
Mekka ist die heilige Stätte des Islams, die jeder Muslim einmal im Leben besuchen soll. Spürt man die spirituelle Kraft, wenn man an so einem Ort aufwächst und ist es diese spirituelle Kraft, die einen zum Schreiben drängt?
Alem: In Mekka sah ich die Menschen als Reisende von Heiligtum zu Heiligtum. Diese spirituelle Kraft beflügelte meine Fantasie. Ich schreibe, um sie zu erforschen, ihre äußersten Grenzen zu erkunden und mit ihr mit zu fließen. Meine Romane sind Erweiterungen meines Selbst. Durch sie gelange ich in Welten, die uralt und futuristisch zugleich sind. Ich habe Freude daran, Beschränkungen zu überwinden und die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dem Möglichen und Unmöglichen, Leben und Tod zu überschreiten. Mit jedem Buch entwickle ich mich weiter und ermögliche auch dem Leser sich weiterzuentwickeln, wie es mir als Teenager bei der Lektüre von Hermann Hesses "Siddhartha" erging. Ich war damals betroffen von der Ähnlichkeit seines Flusses mit dem, der in unserem Koran erwähnt wird.
Ihr Roman ist aufgespannt zwischen der Trauer über das Verschwinden der altehrwürdigen Architektur Mekkas und "Bildern vom Mekka der Zukunft" mit gigantischen Wolkenkratzern und einer Kaaba aus Stahl. Ist dieses Porträt Mekkas auch ein Bild für die saudische Gesellschaft?
Alem: Als ich "Das Halsband der Tauben" zu schreiben begann, schaute ich zunächst zurück. Aber als ich das Buch abschloss, fand ich mich in einem anderen Gedankengang. Nicht nur die Saudis, sondern die Menschen weltweit befinden sich im Aufbruch zu einer Art virtuellen Realität. Die Wirklichkeit selbst verliert ihre frühere Wirkung. Wir sind nicht mehr begrenzt durch Denkweisen oder Lebensarten, sondern wir verwandeln uns in universale, virtuelle Wesen, nach und nach verwurzelt in einem virtuellen Bereich, in dem die Herkunft und das kulturelle Erbe als ein von allen geteilter schmückender Kunstbereich angesehen werden – als ein Museum, durch das man leichten Herzens flaniert und nicht als Gräben, über die man einander bekämpft.
Ein Thema, das im Westen stets in den Vordergrund gerückt wird, wenn von islamischen Ländern die Rede ist, das ist die Frage der Frauenrechte. Sie zeichnen in Ihrem Roman sehr selbstbewusste und starke Frauencharaktere…
Alem: Freiheit wird einem niemals geschenkt. Man muss sie sich verdienen. Ich trug mich immer mit dem Gedanken, über meine Großmütter und meine Tanten zu schreiben. Sie sind meine modernen Idole, die herausragende Rollen in der Entwicklung des Landes inne hatten, Frauen mit Kultstatus, die in Nachbarschaft mit den unterdrückten Frauen leben. Es ist wie überall, wo Frauen und Männer es entweder schaffen, eine Gleichberechtigung herzustellen oder von sozialen Geboten daran gehindert werden. Dieser Kampf ist das Leben. Ich stürmte einfach vorwärts, wo immer eine Tür verschlossen war. Ständig übte ich Druck aus.
In diesen Zusammenhang gehört auch die sogenannte Kopftuchfrage. Die Kulturwissenschaftlerin Christine von Braun meint, die Entkleidung des weiblichen Körpers im öffentlichen Raum habe nichts mit Emanzipation zu tun. Idealisieren wir unser Frauenbild im Westen so sehr, dass wir kein anderes zulassen können?
Alem: Als ich ein Teenager war und noch keine Reisen unternahm, trug ich in den Straßen Mekkas die Abaja und bedeckte mein Gesicht mit der Tarha aus durchsichtiger Seide. So lautete die Kleidervorschrift. Anständige Mädchen zeigten niemals ihr Gesicht und gaben sich auch nicht mit einem Schleier zufrieden, der ihre Gesichtszüge durchscheinen lassen könnte. Ich trug vier Schleier, wie es dem gesellschaftlichen Stand meiner Familie entsprach und ich war stolz darauf. Unter diesen Schleiern aber brummte mein Kopf mit Revolutionärem: Kant, Hegel, Heidegger, Nietzsche, Spinoza, Sartre, Einstein, Aristoteles, Dostojewski, Victor Hugo und D.H. Lawrence, Tolstoi und Yasunari Kawabata mit seinen japanischen Welten. Was bedeutet die Abaja in so einem Umfeld?
Wenige Jahre später bedeckte ich mein Gesicht gar nicht. Ich bin nicht für oder gegen den Schleier. Alles, was ich tue, ist, Fragen aufzuwerfen, nicht bei der äußeren Erscheinung stehen zu bleiben, sondern zur Seele von Fakten und Ereignissen vorzustoßen, das heißt, zu den wirklichen Errungenschaften der Frauen meines Landes, die sich in Wohltätigkeitsprojekten oder im Bildungswesen engagieren oder als Förderinnen und Mäzenatinnen von Kunst tätig sind. Welche Bedeutung haben Kleider für unser Verhalten und unsere Taten?
Wie sah die Literaturszene in Saudi-Arabien aus, als Sie zu schreiben begannen? Welche Vorbilder hatten Sie?
Alem: Meine Vorbilder kamen von einer großen internationalen Landkarte, von der Kunst und der Literatur. Sehr beeinflusst wurde ich von alten arabischen Büchern, etwa den Werken großer Sufis wie Al-Nafari, Rumi oder Ibn Arabi, Al-Suhrawardi oder Al-Hallaj, der für seine Überwindung aller Grenzen hingerichtet wurde. Unbewusst wurde mein Stil auch geformt von Büchern wie dem "Buch der Tiere" von Al-Dschahiz oder der Kosmografie "Wunder der Lebewesen und seltsame Dinge" von Al-Qazwini.
Das war Science-Fiction, noch bevor es so etwas im Westen gab. Ein Buch ist für mich ein imaginäres Sein, das wogt wie ein Ozean, in dem ich mich verlieren kann. In Saudi-Arabien sind Romane unerforschtes Gebiet. Die arabische Halbinsel war eine Nation von Dichtern. Die Poesie war unser Geschichtsbuch. Erst später entwickelte sich eine Generation, die davon besessen war, Romane zu schreiben. Da wurden dann die meisten Dichter zu Romanautoren.
Sieht man von Rajaa Alsaneas Buch "Die Girls von Riad" ab, ist im deutschsprachigen Raum wenig über die saudische Literatur bekannt. Welche Bedeutung messen Sie den Werken saudischer Gegenwartsautoren innerhalb der arabischen Literatur bei?
Alem: Die Bücher, die aus Ländern wie Saudi-Arabien oder anderen Staaten der Golfregion oder Nordafrika kommen, werden als Literatur vom Rand beschrieben. Von Ägypten, Syrien, dem Irak oder Libanon nimmt man an, dass sie die zentrale Literatur hervorbringen. Aber seit den neunziger Jahren tauchten Schriftsteller vom Golf und aus Nordafrika auf und hinterließen ihren Fußabdruck in der arabischen Literatur. Kritiker der arabischen Welt betrachten mein Schreiben als eine Klasse für sich.
Lassen sich Themenbereiche benennen, die die saudische Gegenwartsliteratur bestimmen?
Alem: In saudischen Romanen geht es generell um den Ausdruck von Individualität. Die Schriftsteller erschaffen Menschen, die frei sind, die die volle und unbekümmerte Verantwortung für ihre Taten tragen und in ihrem Handeln nicht die Gesellschaft, sondern nur sich selbst vertreten. Sie überschreiten Grenzen und sind bereit, dafür zu bezahlen. In den letzten Jahren hat sich die Literaturszene etwas beruhigt und nach und nach Gestalt angenommen. Schriftsteller erwecken den Geist ihrer Heimat und deren wunderbarer Bewohner zum Leben.
Wie ist es derzeit um die Zensur in Saudi-Arabien bestellt? Während man einerseits immer wieder von Verhaftungen von Schriftstellern liest, haben Sie in einem Interview erklärt, dass Sie als Intellektuelle anerkannt würden…
Alem: Ich bin zu meinen schriftstellerischen Arbeiten, die wirklich kontrovers sind, alles in Frage stellen und tiefe Sinnlichkeit ausdrücken, niemals verhört worden. Das bedeutet nicht, dass es keine Zensur gibt. Die Grenzen sind jedoch weit. Natürlich ist es nicht erlaubt, die Religion oder die Werte der Menschen zu beleidigen. Aber wenn ich schreibe, kümmere ich mich nicht um die Zensur.
Der Augenblick des Schreibens ist so besonders, so geheiligt, ich befinde mich an einem Ort, an dem ich nicht berührt werde von dem, was erlaubt ist und was nicht. In diesem Moment der Trance existiert die Zensur für mich nicht. Ich schreibe frei, wie ich im Traum fliege.
Werden weitere Romane von Ihnen ins Deutsche übersetzt werden?
Alem: Das ist ein Traum ohne Grenzen. Einige meiner früheren Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt und veränderten mich als Schriftstellerin und als Mensch. Jetzt werde ich sehen, wie die deutschsprachigen Leser auf mein Buch reagieren, wie sie mich und meine Welten entdecken. Ich habe große Hoffnungen. Ein Buch, ein Satz reicht aus, um tiefste Verbindungen herzustellen.
Das Interview führte Ruth Reif.
© Qantara.de 2014
Raja Alem, geboren 1956 in Mekka, studierte an der Universität Dschidda Englische Literatur und absolvierte eine pädagogische Ausbildung. 1995 veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Seidenstraße". Zu ihren weiteren Werken zählen die Theaterstücke "Löcher im Rücken" (1987), "Das Glashaus" (1988) und "360 Löcher für das Gesicht einer Frau" (1989), der Erzählband "Der Fluss des Tieres" (1994) sowie die Romane "Eigenname" (1998), "Siegelring" (2001), "Die Feuerstelle des Vogels" (2002), "Geheimnis" (2005), "Meine Tausendundeine Nacht. Ein Roman aus Mekka" (2007) und "Das Halsband der Tauben" (2010, dt. 2013 von Hartmut Fähndrich). Alem erhielt für ihr Werk zahlreiche Preise. So wurde sie 2011 als erste Frau mit dem "International Prize for Arabic Fiction" ausgezeichnet. Sie lebt in Mekka und Paris.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de