Auf der Suche nach Leben

Die syrische Autorin Najad Abed Alsamad
Najat Abed Alsamad, Die syrische Schriftstellerin und Gynäkologin Najat Abed Alsamad wurde in Suwaida, Syrien, geboren und lebt heute in Deutschland. Sie hat bereits mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht, die seit 1994 bei Verlagen in Syrien, Libanon und den Vereinigten Arabischen Emiraten erschienen sind. "Kein Wasser stillt den Durst" ist ihr erster ins Deutsche übersetzte Roman. (Foto: Farah Abou Assali)

Najat Abed Alsamad schildert in ihrem preisgekrönten Roman das Schicksal einer jungen Drusin, die sich den traditionellen Regeln ihrer Eltern und Verwandten vehement widersetzt und auf einem langen Weg ihre Freiheit erkämpft.

Von Volker Kaminski

Schon früh weiß Hayat, dass sie die patriarchalen Regeln und Vorstellungen ihrer Eltern nie akzeptieren wird. Es ist nicht nur die Enge im zu kleinen Haus in Damaskus, wo sie mit fünf Schwestern, zwei Brüdern, einem prügelnden Vater und einer verständnislosen Mutter aufwächst. Das Ende ihrer Kindheit bedeutet für Hayat zugleich ein vorweggenommener Abschied: "Als ich meine Menstruation bekam, war es vorbei mit der Freude, im Nachbarhaus oder sonst wo zu spielen (…) Ich distanzierte mich von meiner Familie und wanderte mit meinen Gedanken hoch über den Wolken durch den Himmel." 

Doch trotz dieser frühen Erkenntnis kann Hayat sich nicht gemäß ihrer Vorlieben und Sehnsüchte entwickeln. Nach dem Schulabschluss möchte sie unbedingt ihrem Bruder nach Beirut folgen und studieren, doch ohne sie zu fragen, wird sie mit einem Mann verheiratet, den sie zuvor nur dreimal gesehen hat: Khalil, ein Cousin ihres Vaters, "ein vierzigjähriger verdrießlicher großer Mann in einem mattbraunen Anzug und glänzenden Schuhen."  

Khalil ist keineswegs gewillt, ihren Drang nach Bildung und Freiheit zu unterstützen, ihre Hochzeit ist ein kalter, zeremonieller Akt, bei dem es vor allem um die ausgehandelte Geldsumme des Bräutigams und den anschließenden Ortswechsel geht. Fast wie bei einer Entführung wird die Braut sofort nach der Hochzeit in das Dorf gebracht, aus dem ihre Eltern stammen und das sie nie zuvor besucht hat.  

Cover von Najat Abed Alsamed Kein Wasser stillt ihren Durst
Ein grandioser, hochliterarischer Roman über eine abgeschlossene Welt, von Larissa Bender in bewährter Qualität in episch ruhigem Tonfall übersetzt, schreibt Volker Kaminski. (Quelle: Edition Faust)

Mehr als eine Emanzipationsgeschichte

Schnell wird klar, dass Khalil in ihr ein Lustobjekt sieht, um seine sexuellen Wünsche zu befriedigen. Hayat, die sich dagegen wehrt "auf dem Level einer allzeit verfügbaren Frau" zu leben, entdeckt mit Schrecken, dass sich bei ihr das Schicksal ihrer Mutter wiederholt, die ihrem Mann im Bett ebenso gefügig sein musste und für den es selbstverständlich war, dass sie ihm jeden Abend die Füße wusch. Als Hayat sich weigert, diese beschämende archaische Praxis zu erfüllen, schlägt Khalil sie, und es wird schnell klar, dass Hayat an seiner Seite auf dem Dorf unglücklich werden wird.  

Der Roman ist jedoch mehr als ein weiteres Beispiel in einer langen Reihe von Emanzipations-Biographien. Das liegt vor allem an der komplexen Familienstruktur, dem beinahe undurchdringlichen Labyrinth der Verwandtschaftsverhältnisse (so ist Hayat nicht nur mit ihrem Mann verwandt, sondern auch mit ihrer großen unerfüllten Liebe Nasser, einem Sohn ihrer Tante). 

Die sich ähnelnden Leidenswege von Müttern und Töchtern, Vätern und Söhnen sind gewissermaßen der Ahnenfolge eingeschrieben, die wie in einem kleinen Kosmos die drusische Religionsgemeinschaft fest aneinanderbindet. Nicht zufällig sind im Buch die Stammbäume der beiden Hauptfamilien sowie eine Namensliste sämtlicher Haupt- und Nebenfiguren abgedruckt.   

Dennoch ist der Roman auch kein reiner Familienroman. Der Blick der Erzählerin geht weit über die individuellen Schicksale der Protagonisten hinaus und entwirft ein Tableau des Lebens der Drusen in der Region um die Stadt Suweida, ein Gouvernement mit gleichnamiger Hauptstadt im Südwesten Syriens. Hier kämpfen die Menschen seit Jahrhunderten um ihr karges Überleben, gegen Wasserknappheit, verheerende Dürren, fehlende Ressourcen. Es ist ein ständiger Lebenskampf, von dem auch die Familien im Roman betroffen sind.   

Schonungslos und bitter

In langen historischen Abrissen erfahren wir viel Interessantes zur Technik des Brunnenbaus in den dürren Steppen, einem anspruchsvollen Berufszweig, der für viele junge Männer attraktiv ist und ihnen Freiheit und relativ gute Bezahlung bietet. Die Bohrungen reichen mitunter bis 700 Meter in die Tiefe – eine gigantische Aufgabe, deren große Bedeutung sich auch sinnbildlich im Titel des Romans widerspiegelt. 

Das komplexe, vielschichtige und weit ausgreifende Roman-Setting zwischen Familienleben und der Chronik einer ganzen Region meistert die Autorin mittels einer originellen Erzählweise, die teils poetisch, teils kraftvoll direkt ist und manchmal eine erstaunliche Bitterkeit besitzt. 

So beschreibt die Erzählerin ihren Vater schonungslos in seiner ganzen Schwäche: "An jenem Tag wünschte ich mir zu sterben, oder dass mein Vater starb (…) oder dass ich einen anderen Vater hätte als den, der in seinem Leben nichts anderes tat, als zu seiner Arbeit zu gehen, ein drittklassiger Beamter in der KFZ-Zulassungsbehörde, und nach Hause zu kommen, in den Händen lächerlich kleine Tüten, mit meiner Mutter zu streiten und entweder nur sie oder uns alle zu schlagen…"

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Hayat wird jedoch nicht das Schicksal ihres Vaters und ihrer Mutter wiederholen. Trotz ihres brutalen, lieblosen Ehemannes und trotz der vier Söhne, die sie aufzieht, gelingen ihr kleine Fluchten, eine heimliche Liebschaft, und ihr Leben nimmt schließlich eine ganz eigene Wende, von der uns dieser kunstvoll verschlungene, formal anspruchsvolle Roman mit all seinen Andeutungen und Verweisen erst nach und nach erzählt. 

Es ist keine leichte Aufgabe, der Erzählerin in ihrer ausgreifenden Fabel, den vielen Vor- und Rückblenden und kursiv gesetzten Einschüben in einer insgesamt eher nicht plotgestützten Erzählweise zu folgen, doch erlahmt das Interesse an keiner Stelle im Buch. Ein grandioser, hochliterarischer Roman, den Larissa Bender in bewährter Qualität in episch ruhigem Tonfall übersetzt hat.  

Volker Kaminski 

© Qantara.de 2024    

Najat Abed Alsamad, Kein Wasser stillt ihren Durst, aus dem Arabischen von Larissa Bender, Edition Faust 2023

Najat Abed Alsamad, syrische Schriftstellerin und Gynäkologin, geboren in Suwaida, Syrien, lebt in Deutschland. Sie hat einen Bachelor in arabischer Sprache und Literatur an der Universität Damaskus absolviert und danach mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht, die seit 1994 in Verlagen in Syrien, Libanon und den Vereinigten Arabischen Emiraten erschienen sind. Ihre Artikel, Studien und Forschungsarbeiten wurden in arabischen Zeitungen, auf Websites und bei Think Tanks veröffentlicht. Für ihren 2018 auf Arabisch veröffentlichen Roman "La Ma'a Yarwiha" (Kein Wasser löscht ihren Durst) erhielt sie den Katara-Preis. Die deutsche Übersetzung steht auf der Weltempfänger Litprom-Bestenliste im Frühling 2024.