Konsequent subversiv

Photo montage: Syrian author Zakaria Tamer / Cover of the Arabic edition of Zakaria Tamer's "Sour Grapes"
Menschen werden zu Hyänen und Spatzen zu Kampfflugzeugen: Zakaria Tamer liebt Verwandlungen und seltsame Übergänge zwischen Leben und Tod. "Tamers Charaktere können einen unbeschwerten, fröhlichen Tag erleben, während sie in ihren Träumen Folter erleiden", schreibt Marcia Lynx Qualey. (Foto: dostor.org)

In seiner Kurzgeschichtensammlung "Sour Grapes" (dt. Saure Trauben) - die jetzt in englischer Übersetzung erschienen ist –, bedient sich der syrische Schriftsteller Zakaria Tamer einer augenzwinkernden Ironie, die seine Texte für viele Fans so attraktiv macht.

Von Marcia Lynx Qualey

Eines der zentralen Themen von Sour Grapes ist die Umdeutung der Vorstellungen von Ehre und Anstand, wie sie insbesondere in den syrischen Städten verstanden wurden, in denen Tamer die ersten fünfzig Jahre seines Lebens verbrachte. 

Die Kurzgeschichtensammlung wurde zunächst im Jahr 2000 auf Arabisch veröffentlicht. Nach mehr als zwei Jahrzehnten liegt sie nun in der englischen Übersetzung von Alessandro Columbu und Mireia Costa Capallera vor.  

Tamer ist als Schriftsteller weitgehend Autodidakt. Er wurde 1931 geboren und verließ 1944, im Alter von 13 Jahren, die Schule, um zum Lebensunterhalt seiner Familie beizutragen. Er habe schon immer gerne gelesen, sagt er. Ende der 1950er Jahre begann er, seine Geschichten bei Literaturzeitschriften einzureichen. Sein erster Erzählband, 1960 erschienen, ermöglichte es ihm, seine Arbeit als Hufschmied aufzugeben und als Redakteur zu arbeiten. 

Seine frühen, eher volkstümlichen Kurzgeschichten waren zwar regierungskritisch, aber nicht explizit, sondern eher verschlüsselt. Dennoch zog er sich den Unmut des Regimes zu. 1980 wurde er aus einer Redaktion entlassen, nachdem er Auszüge aus Die Natur des Despotismus des syrischen islamischen Theologen und Publizisten Abd ar-Rahmān al-Kawākibī veröffentlicht hatte. 1981 siedelte er nach Großbritannien über, wo er seitdem lebt. 

Aber seine geliebten Geschichten, darunter auch die in Sour Grapes, drehen sich weiterhin um Syrien. Die Erzählungen in dieser Sammlung spielen in einem imaginären syrischen Viertel. Sie bedienen sich einer Mischung aus raffiniertem Surrealismus und ausgeprägtem Humor. Oft scheinen sie an zwei Orten gleichzeitig stattzufinden. 

Cover of Zakaria Tamer's "Sour Grapes" (published by Syracuse University Press)
"Sour Grapes" ist eine Sammlung von 59 ironisch-satirischen Kurzgeschichten, die durch wechselnde Charaktere vom Rand der Gesellschaft lose miteinander verbunden sind. Tamer zeichnet ihren Alltag nach, indem er die Grausamkeit und Ironie des täglichen Lebens unter einem repressiven Regime mit der Respektlosigkeit und dem kleinen Widerstand der Bewohner verwebt. (Quelle: Syracuse University Press)

Raue Männer und schamlose Frauen

Viele der Geschichten in Sour Grapes spielen im imaginären Stadtteil Queiq, das, wie es in der Eröffnungsgeschichte heißt, für seinen illegalen Reichtum, seine unbändigen Kinder, seine rauen Männer und schamlosen Frauen berüchtigt war. Und obwohl Ehre in diesen Erzählungen oft wie eine erbärmliche Einbildung erscheint, schützt Ehrlosigkeit auch niemanden. 

Nichts in den Geschichten ist von Dauer: Wer mächtig zu sein scheint, wird in ein oder zwei Sätzen zu Fall gebracht. In der ersten Geschichte, "The Quarrel" (dt. "Der Streit"), betritt Umm Ali die Bühne, aber schon bald ist sie "nur noch ein welkes Stück Fleisch, das nicht aufhören konnte zu stöhnen und zu röcheln, das mit irrem Blick durch die Straßen von Queiq stolperte, den Rücken gebeugt und den Kopf zwischen den Schultern hängend, gleichgültig gegenüber den bösen Bemerkungen der Nachbarinnen". 

Khidr Alloun ist der, der für das Unglück von Umm Ali verantwortlich ist: Er hat ihren geliebten Enkel getötet. In der nächsten Geschichte verliert Khidr sein Messer und unterhält sich mit dem vorislamischen Ritter und Dichter Antara bin Scheddad über ihre gemeinsame Liebe zu Waffen. Als Khidr anschließend einen Spaziergang unternimmt, "wurde er plötzlich von einem heranrasenden Auto erfasst und überfahren. Man brachte ihn in ein nahegelegenes Krankenhaus. Er starb im Morgengrauen des nächsten Tages". 

Diese ersten beiden Geschichten zeigen uns, wie vergänglich Macht ist und wie launisch das Schicksal sein kann. In "Death of a Dagger" (dt. "Tod eines Dolches") tauscht Khidr Alloun Gedanken mit einem Kriegerdichter aus dem 6. Jahrhundert aus. Auch in der nächsten Geschichte, "The Night Singer" (dt. "Der Nachtsänger"), verschwimmen die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit.  

Nach Einbruch der Dunkelheit singt der Musiker Shafiq al-Kawa für ein überaus respektloses Publikum. Als er erklärt, er werde gehen, wenn das Publikum nicht aufhöre, ihn zu verspotten, antwortet ihm sein Gastgeber: "Sie wissen, wo die Tür ist!” 

Die Flüchtigkeit der Zeit

Die Zeit verflüchtigt sich auch auf andere Weise. Als sich der Häftling Shukri al-Mubayyid eines Morgens rasiert, rutscht er - angeblich aus Versehen - mit dem Rasiermesser ab und schneidet sich selbst die Kehle durch. Kurz darauf stirbt er. Nachdem sein Körper in einen stabilen Leichensack gesteckt wurde, macht sich ein Beamter auf die Suche nach der Familie des Verstorbenen. Doch während der Haftzeit ist viel passiert: "Sein Vater wurde wegen Landstreicherei und Hausierens verhaftet.” 

Sein Bruder wurde wegen Veruntreuung von Staatsgeldern angeklagt. Seine Mutter wurde verhaftet, weil sie die Ehre angesehener Frauen beleidigt hätte. Seine Schwester wurde eingesperrt, weil sie weder Freude noch Trauer zeigen wollte. 

Auch seine Cousins sind verschwunden, seine Freunde haben sich von ihm abgewandt. Am Ende schleicht sich der verstorbene Shukri al-Mubayyid aus der Wache und kehrt in das Haus seiner Familie zurück, wo er auf die Rückkehr seiner Verwandten wartet, damit sie ihn begraben können. 

In den Geschichten gibt es viele Metamorphosen und seltsame Übergänge zwischen Leben und Tod: Menschen verwandeln sich in Hyänen und Spatzen in Kampfflugzeuge. Tamers Charaktere können einen unbeschwerten, fröhlichen Tag erleben, während sie in ihren Träumen Folter erleiden. 

Die Sammlung hat allerdings ein eher schwieriges Verhältnis zur Geschlechterfrage. Eine kritische Auseinandersetzung mit Ehre und Anstand muss natürlich auch Sex und Keuschheit thematisieren. Aber hier scheint die Kritik nicht zu Ende gedacht zu sein. Es gibt einige Geschichten, die auf einen Kalauer nach dem Motto "Nimm zum Beispiel meine Frau ..." hinauszulaufen scheinen, aber überraschenderweise damit enden, dass das Gegenüber die Aufforderung missversteht und wörtlich nimmt, wobei die Frau sogar Gefallen an ihrer Vergewaltigung zu finden scheint. 

Sour Grapes endet mit einer sehr kurzen Geschichte über die Kunst der Fiktion, die treffenderweise "The Last Story" (dt. "Die letzte Geschichte) heißt. In dieser Geschichte beschweren sich die Gäste eines Cafés, ähnlich wie das Publikum im "Nachtsänger", über die Langeweile des Geschichtenerzählers. 

Der Erzähler verspricht, eine verrückte Geschichte zu erzählen, die alle Zuhörer verstummen lassen wird. Als er zu sprechen anhebt, fallen nicht nur seine Zuhörer in einen tiefen Schlaf, sondern alle Bewohner der Erde – auch der Geschichtenerzähler selbst.  

War die Geschichte so bewegend oder so langweilig? Oder war sie vielleicht beides zugleich, wie viele der Kurzgeschichten in Sour Grapes

Marcia Lynx Qualey 

© Qantara.de 2024 

Qantara.de-Autorin Marcia Lynx Qualey hat in diesem Jahr den Ottaway Award for the Promotion of International Literature erhalten.

Zakaria Tamer, Sour Grapes, Syracuse University Press 2023