"Wir brauchen nicht nur eine einzige Stimme"

Fareena Alam ist eine der profiliertesten Vertreterinnen der jungen Muslime in Großbritannien. Sie plädiert für Meinungsvielfalt und Toleranz im Islam und begründet, warum eine Neuorientierung junger Muslime nötig ist.

Interview von Ruth Rach

Sie tragen ein Kopftuch. Waren Sie schon immer eine engagierte Muslima?

Fareena Alam: Mit 21 Jahren habe ich mich für den Islam entschieden. Ich bin in einer traditionellen, doch überwiegend säkularisierten Familie aufgewachsen. Ich hatte das Gefühl, von meinen Eltern und Großeltern nicht richtig verstanden zu werden und dachte, dass sie keine wahren Muslime seien, weil sie den Islam in einer eigenen, privaten Art und Weise praktizierten und nicht so wie wir.

Meine Mutter trug kein Kopftuch - zumindest nicht, bis ich eines trug und wir uns gemeinsam dafür entschieden, es zu tragen. Wenn man älter wird, begreift man, dass sie sehr wohl richtige Muslime waren. Sie kamen in dieses Land und leisteten anständige Arbeit, um ihre Familien zu ernähren. Sie hielten sich aus allem heraus, was ihnen Ärger hätte bereiten können. Sie legten sich mit niemandem an und wollten niemanden bekehren. Sie bauten ihre kleinen Moscheen und trafen sich, um gemeinsam zu beten. Auf der anderen Seite gibt es nun all diese modernen Muslime, die darauf aus sind, allen möglichen Ärger zu machen.

Warum geschieht das?

Alam: Es liegt an dem Gefühl einer globalen Verantwortung. Wir interessieren uns für das Schicksal der Palästinenser, für den Irak, Kaschmir und Tschetschenien. Wir verlieren dabei aus den Augen, was direkt um uns herum passiert, obwohl dies doch einen echten Muslim auszeichnet. Dem geht es doch darum, ein ehrliches und verdientes Auskommen zu finden, sich um seine Nachbarn zu kümmern, 40 Häuser zur Linken, 40 Häuser zur Rechten, 40 Häuser vor einem und 40 Häuser hinter einem.

Wie könnte das Augenmerk wieder darauf gelenkt werden, das heißt also: weg von den globalen Themen?

Alam: Eine Möglichkeit wäre, den Fokus dieser jungen Männer auf die Entwicklung der eigenen Gemeinde zu verlagern. Eine starke Gemeinschaft ist eine, in der sich die jungen Menschen um die Infrastruktur kümmern, also um funktionierende soziale Dienste, Wohlfahrtsdienste, um eine effektive Selbstversorgung und die Hilfe bei Existenzgründungen. So macht es die jüdische Gemeinschaft. Bei ihnen gibt es erstaunliche Gesundheits- und Wohlfahrtsprogramme, die es wert sind, dass man sie sich einmal genauer anschaut.

Warum tun sich junge Muslime so schwer damit, diesem Beispiel zu folgen?

Alam: Weil es sehr viel leichter ist, sich über den Irak aufzuregen. Um die Nachbarn zu kümmern, ist dagegen sehr viel schwerer, als die Straße herunterzulaufen und gegen die Situation im Irak zu protestieren. Außerdem wurden die Leute, die sich am 7. Juli 2005 in die Luft sprengten und die, die es nur 14 Tage später versuchten, von sehr charismatischen Rednern beeinflusst, denen es gelang, die jungen Männer davon zu überzeugen, dass sie mit ihren Taten der muslimischen Gemeinschaft dienten und sie überdies eine Eintrittskarte ins Paradies erlangten.

Wir glauben fest daran, dass es machbar ist, solche Menschen wieder auf den richtigen Pfad zu führen - vorausgesetzt sie haben den richtigen Lehrer. Als der "Muslim Council of Britain" (MCB) dazu aufrief, die Moscheen vor dem Terrorismus zu warnen, hatte dies praktisch keinerlei Folgen, denn die jungen Leute hören einfach nicht auf den MCB. Sie treffen sich bei sich zu Hause, in Kebab-Restaurants und auf der Straße. Viele dieser Menschen kommen auch von außerhalb Londons. Es ist wichtig, sie richtig anzusprechen.

Es wird oft gesagt, dass die muslimische Gemeinschaft in Großbritannien nicht mit einer Stimme spricht ...

Alam: Die muslimische Gemeinschaft hat sich zu lange etwas vorgemacht. Sie dachte, dass es nötig wäre, um eine reife, erfolgreiche Gemeinschaft zu sein, nur mit einer Stimme zu sprechen. Doch darin stimme ich mit vielen Glaubensbrüdern und -schwestern nicht überein. Und ich glaube, dass darin auch ein grundsätzliches Missverständnis liegt: nämlich in dem Glauben, dass wir mit einer Stimme sprechen müssen, und wir andernfalls etwas falsch machten. Ich antworte mit 'Nein". Es gibt viele unterschiedliche Stimmen und auch wenn ich mit vielen dieser Überzeugungen nicht übereinstimme, existieren sie doch. Und sie sind deshalb auch nicht weniger wert.

Es gibt im Islam vier unterschiedliche Denkrichtungen, die vom wahabitischen Islam ausgelöscht wurden. Die Monarchie in Saudi-Arabien hat die vier Ecken der Moschee in Mekka entfernt - dort, wo die Kaaba steht. Diese Ecken repräsentierten die Meinungsunterschiede. Nach und nach wird so auch die Vorstellung aus den Köpfen der Muslime verbannt, dass es unterschiedliche Auffassungen des Glaubens geben könnte. So ist es zu erklären, dass ein junger Muslim heute denkt, dass es un-islamisch wäre, unterschiedliche Meinungen über den Islam zu haben.

Der "Muslim Council of Britain" vertritt ein bestimmtes Spektrum dieser Auffassungen, doch ganz gewiss nicht sämtliche Positionen und Deutungen. Das Problem ist, dass der MCB sich als Alleinvertreter fühlt, doch das größere Problem ist, dass auch von außen diese Vorstellung an ihn herangetragen wird. Damit drängen die Medien den Rat in eine Ecke und letztlich dazu, Erklärungen abzugeben, die für die gesamte muslimische Gemeinschaft Gültigkeit haben sollen. Dies ist ein Teufelskreis, weil beide Seiten das Problem noch vergrößern.

Fühlen sich die britischen Muslime Ihrer Meinung nach in der Rolle von Opfern, insoweit es ihre Werte und ihre Verantwortung betrifft?

Alam: Das Gefühl, Opfer zu sein, wächst in der muslimischen Gemeinschaft zusehends, solange deren Werte in ungerechtfertigter Weise angegriffen werden. Jemand, der sich als Opfer fühlt, glaubt, dass die anderen sich einfach alles erlauben können. Und dies gilt für jede Gemeinschaft und ist beispielsweise auch in der jüdischen Gemeinschaft zu beobachten.

Der zweite Grund ist der, dass der traditionelle Islam sich sehr unterscheidet von dem, mit dem wir es heute zu tun haben. Islam wird heute im Internet gelehrt. Alle diese heiligen Texte werden heute nur noch sehr schlecht ins Englische übersetzt. Dabei kann der Islam nicht allein mit Hilfe von Lehrbüchern studiert werden. Man muss einen Lehrer haben. Denn wenn der Lehrer einer Person Wissen direkt vermittelt, dann vermittelt er damit zugleich eine bestimmte Denkweise.

Doch viele dieser Internetseiten werden heute von den Wahabiten gesponsert, alles wird nur noch in Schwarz-Weiß gezeichnet und alles wird sehr grell dargestellt. Das hat einen enormen Effekt auf unser Verständnis der Religion, auf unsere eigene Tradition. Ich habe dies an mir selbst erfahren, als ich vor einigen Jahren dem Islam im Internet begegnete. Ich war damals ein anderer Mensch als ich es heute bin.

Was war es, das Sie verändert hat?

Alam: Ich habe wirkliche Gelehrte kennen gelernt, von denen ich erfahren habe, dass es sich beim Islam um keine Tradition handelt, einen Glauben, den man allein aus dem Lehrbuch lernen und verstehen kann. Seit dieser Zeit fühle ich mich in meiner westlich geprägten Umgebung wohler und auch in bestimmter Weise liberaler, weil ich nun verstehe, dass die Scharia ein solch breiter Pfad ist. Wenn man dagegen ein Wahabit oder allgemein ein Anhänger der Salafiyya ist, dann ist man der Ansicht, dass dieser Pfad sehr schmal ist und dass man in der Hölle landet, wenn man ihn verlässt. Doch die Scharia ist so nicht zu deuten.

Aber Sie selbst sehen darin keinen Widerspruch, Britin und auch gleichzeitig Muslima zu sein?

Alam: Nein, darin sehe ich überhaupt keinen Konflikt. Ich lebe in Großbritannien und es ist mir freigestellt, ein Kopftuch zu tragen. Ich bete fünf mal am Tag, ich gehe in die Moschee, die es in jeder Wohngegend Londons gibt. Ich leite die muslimische Zeitschrift Q-News. Ich trage die Kleidung, die ich tragen möchte. Ich esse das, was ich essen möchte...

Ich belästige daher niemanden und niemand belästigt mich. Was kann man da noch mehr verlangen? Es gibt eine ganze Menge Länder mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit, in der ich kein Kopftuch tragen könnte. Es gibt eine Menge Leute, die die idyllische Vorstellung haben, dass wir den Westen verlassen müssten, weil der Westen anti-islamisch ist. Ich dagegen glaube, dass eine säkulare, liberale Gesellschaft für einen Muslim die beste Umgebung ist, weil diese Gesellschaft an die Freiheit der individuellen Entscheidung glaubt.

Interview: Ruth Rach

© Qantara.de 2008

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Qantara.de

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