Interview mit Günter Wallraff: Patenschaften für verfolgte türkische Schriftsteller

Als "Türke Ali" enthüllte Günter Wallraff einst die schlechte Behandlung türkischer Gastarbeiter in Deutschland. 30 Jahre nach seinem Reportagebuch "Ganz unten" blickt der Journalist in die Türkei - mit großer Sorge.

Von Stefan Dege

Auch in der Türkei verkaufte sich Wallraffs Buch "Ganz unten", das 1985 erschien, außerordentlich gut. Viele Menschen am Bosporus sähen in ihm noch immer "Ali", sagt Wallraff. Als Türke verkleidet, hatte er gefährliche und schlechtbezahlte Jobs angenommen und so manche Diskriminierung ertragen. Noch heute fühle er sich der türkischen Bevölkerung eng verbunden, sagt der in Köln lebende Journalist.

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Herr Wallraff, Sie haben mal gesagt: "Als Freund der Türkei kann man die Türkei gar nicht genug kritisieren." Sind Sie noch ein Freund der von Präsident Erdogan regierten Türkei?

Günter Wallraff: Als Andere ihn noch als Retter ansahen, der die Wirtschaft voranbringt und die Kurdenfrage löst - da war Erdoğan in meinen Augen schon eine Gefahr für die Demokratie. Er hat sich ja früh geoutet durch Sprüche wie "Demokratie ist für mich wie Straßenbahnfahren. Wenn man am Ziel ist, übernimmt man…." Als Andere noch von der baldigen Mitgliedschaft in der EU sprachen, habe ich schon gefordert, neben wirtschaftlichen Kriterien müssten vor allem Menschenrechte und unabhängige Justiz sowie Meinungsfreiheit gewährleistet sein.

Inzwischen halte ich es für eine Katastrophe, was sich in der Türkei abspielt. Erdoğan ist ein Alleinherrscher, ein Diktator.

Gemeinsam mit anderen prominenten Journalisten und Autoren haben Sie gegen die Verhaftung der Altan-Brüder protestiert. Kommt Ihr Protest bei den Machthabern in Ankara an?

Wallraff: Es wird alles sehr genau registriert, wer sich hier öffentlich äußert und wer sich wie engagiert. Aber in der Türkei kann jeder unter jedem Vorwand erst mal inhaftiert und verurteilt werden. Und Richter, die sich noch an Gesetze halten, werden sehr schnell entlassen und selber bedroht. Von daher kann es nicht genug Initiativen geben. Aber es gibt zu wenig. Es herrscht zu große Gleichgültigkeit.

Vor allem werfe ich unseren Politikern vor, dass sie sich fast in einer Erpressungssituation befinden durch diesen Flüchtlingsdeal. Sogar Bundesaußenminister Steinmeier, den ich wegen seiner Außenpolitik eigentlich sehr schätze, sitzt jetzt in der Falle. Da vermisse ich Initiativen und deutliche Äußerungen. Das ist verhängnisvoll und fast tragisch!

Was geschieht da in der Türkei nach dem Putschversuch? Ist die Türkei schon das Terror-Regime, das Nobelpreisträger Orhan Pamuk beklagt?

Wallraff: Wenn das einer so bezeichnet, der es aus nächster Nähe so erlebt, der sich sonst politisch wenig einmischt und sich literarisch differenziert äußert - wenn Pamuk solche Sätze wählt, dann ist das mehr als berechtigt. Erdogan und seine Getreuen sind dabei, die Türkei durch ihre Säuberungsaktionen zu einem Land ohne Recht umzubauen. Mit den Gerichten fängt es an. Denunziationen sind an der Tagesordnung. Wer noch deutlich seine Meinung sagt, steht schon auf einer Abschussliste. In der Türkei wird richtig aufgeräumt. Es sind zigtausend Menschen, die sich jetzt einschüchtern lassen. Wer noch dagegen hält - solche Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller sind die Helden unserer Zeit - der riskiert Verhaftung und verliert seine Existenz.

Sie setzen sich auch für die Freilassung der inhaftierten Autorin Aslı Erdoğan ein. Was empfehlen Sie türkischen Autoren und Publizisten? Wegducken, anpassen oder auswandern?

Wallraff: Ich kann da überhaupt keine Empfehlung abgeben. Ich sitze hier in Sicherheit, in einem noch funktionierenden Rechtsstaat. Wie kann ich mir da anmaßen, Kollegen, die alles riskieren, Ratschläge zu erteilen? Nein, wir sind gefordert, uns dieser Kollegen anzunehmen und für sie Initiativen zu ergreifen, zum Beispiel in Einzelfällen, Patenschaften zu übernehmen.

Wie funktioniert eigentlich das Leben von Schriftstellern und Journalisten in so einem Unterdrückungsstaat? Wie erhält man sich da ein Mindestmaß an Freiheit?

Wallraff: Das ist eine Balance, eine ständige, tägliche Bedrohungssituation. Da braucht es Netzwerke, einen Halt in Familie und Freundeskreis, die das vielleicht auffangen. Viele verzweifeln. Viele versuchen, das Land zu verlassen, wenn ihre Pässe nicht schon gesperrt sind. Es gibt die absurdesten Beschuldigungen: entweder Terrorismusverdacht oder eine Nähe zur Gülen-Bewegung. Es gibt übrigens eine Kritik, die man am Westen äußern kann: dass nämlich dieser Putsch nicht von Anfang an und nicht eindeutig genug verurteilt wurde.

Aslı Erdoğan gehörte 2008, als die Türkei Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war, zur Delegation der türkischen Autoren. In zwei Monaten wäre Deutschland Gastland auf der Internationalen Buchmesse in Istanbul. Was empfehlen Sie? Fernbleiben aus Protest?

Wallraff: Früher habe ich den Standpunkt vertreten: In solche Länder geht man nicht, die boykottiert man. Heute denke ich, es hängt davon ab, wer hingeht und wie er dort auftritt. Es darf sich aber nicht im Vorstellen schöner Literatur erschöpfen. Jeder deutsche Autor, der dort vertreten ist, sollte sich zum Paten eines türkischen Schriftstellers oder Journalisten machen, dem er sich verbunden sieht - und auf dessen Schicksal aufmerksam machen. Wenn das geschieht, dann auf jeden Fall hinreisen!

Das Interview führte Stefan Dege.

© Deutsche Welle 2016