Ein moderner Odysseus
In seinem Romanerstling von 1937 entwirft Sabahattin Ali ein Sittenbild der türkischen Landbevölkerung in der Zeit kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ort der Handlung ist die anatolische Provinz, die sich jedoch im Roman zur symbolischen Landschaft wandelt, in der sich tragische Schicksale und ein verzweifelter Rachefeldzug abspielen.
Held des Romans ist Yusuf, ein Vollwaise, dem der Kampf ums Überleben gewissermaßen in die Wiege gelegt wurde. Seine ihm zugedachte Rolle beginnt an dem Tag, als eine staatliche Abordnung, bestehend aus Staatsanwalt, Amtsarzt und Landrat, zur Untersuchung eines brutalen Raubüberfalls in ein anatolisches Dorf kommt und Yusuf am Bettrand neben seinen ermordeten Eltern findet.
Yusuf ist erst zehn Jahre alt; obwohl er in den Überfall verwickelt wurde, seine Eltern sterben sah, mit einem Einbrecher kämpfen musste und dabei den Daumen seiner rechten Hand verlor, wirkt er ruhig und gefasst und antwortet auf die Fragen des Landrats knapp und selbstbewusst.
Ein Leben wie im inneren Exil
Als der Landrat ihn daraufhin adoptiert (nicht ganz selbstlos, sondern auch weil er bisher keinen Sohn hat), beginnt für den schweigsamen und in sich gekehrten Yusuf ein Leben wie in einem inneren Exil. Einerseits fühlt er sich fremd in der veränderten Umgebung, an die er sich trotz Freundschaften und neuer familiärer Bindungen nicht gewöhnen kann, andererseits sucht er vergeblich nach einem eigenen Lebensweg und begegnet dabei schon früh jenem Mädchen, das seine große Liebe wird: der Tochter des Landrats, die zu dem Zeitpunkt noch ein Kleinkind ist.
Yusuf steht zwar im Zentrum des Romans, doch der Erzähler begnügt sich nicht mit dem Porträt des Jungen. Er zielt auf ein breit angelegtes Gesellschaftspanorama mit zahlreichen Haupt- und Nebenfiguren. So entstehen eindrückliche Porträts unterschiedlicher Menschen; neben einigen Staatsbeamten, wie dem etwas trägen, aber gutmütigen Landrat, seiner jungen, charakterschwachen Frau und anderen mit feiner Ironie gezeichneten Staatsdienern, treten echte Bösewichter auf, die auch vor Bestechung und Mord nicht zurückschrecken. Auch kommen die eigentlichen Opfer der patriarchalisch geprägten Gesellschaft zu Wort, Landarbeiterinnen und ihre jungen Töchter, die der Willkür und den Übergriffen der Dorfgemeinschaft ausgesetzt sind.
Die epische Breite des Romans fordert Geduld vom Leser. Wie bei der Lektüre der Werke Tolstois oder Dostojewskis, stößt man bei Sabahattin Ali immer wieder auf Passagen, die der Milieuschilderung dienen und nicht zum Vorantreiben der Handlung beitragen. Andererseits sind es eben diese quasi ethnographisch genauen Mikrobeobachtungen, die die sozialkritischen Seitenhiebe ermöglichen.
So wird zum Beispiel anhand eines spektakulären Mordes, der sich vor aller Augen auf einer Hochzeitsgesellschaft ereignet, ein Schlaglicht auf die korrupte Justiz geworfen, die mit üblen Methoden den Täter – den Sohn eines reichen Fabrikanten im Ort – schützt und dafür sorgt, dass die Tat ungesühnt bleibt.
Müßiggang in dumpfen Amtsstuben
Auch an den städtischen Behörden, der der Landrat vorsteht, übt der Erzähler mit bitterer Ironie Kritik. Yusuf, dem es den gesamten Roman über nicht gelingt sich beruflich zu festigen und auf die eigenen Beine zu kommen, wird von seinem Adoptivvater in die Behörde eingeschleust und zum "Schreibsekretär" ernannt – ausgerechnet Yusuf, der kaum eine Schulbildung genoss und dem seit jenem nächtlichen Überfall der rechte Daumen fehlt. So vertreibt er sich in den dumpfen Amtsstuben zusammen mit anderen, meist schlafenden Beamten notgedrungen die Zeit, indem er untätig "mit seiner Schreibfeder spielt".
Im Zentrum der Handlung steht jedoch Yusufs Beziehung zur Tochter des Landrats. Muazzez hat von Anfang eine innige Beziehung zu Yusuf und sieht in ihm ihren Beschützer. Sie weigert sich einen anderen Mann zu heiraten, dem sie versprochen wurde. Yusuf jedoch, der sie ebenso liebt, genießt im Ort keinerlei Ansehen und hat nicht die Mittel, um sie zu seiner Frau zu machen.
Es gelingt ihnen zwar nach einer gemeinsamen Flucht an einem anderen Ort zu heiraten, doch nach der Rückkehr scheint die Situation aussichtslos denn je, Yusuf bleibt ein Fremder in der ungeliebten Heimat. Nach dem plötzlichen Tod des Landrats verschlechtert sich die Lage noch mehr: Yusuf verliert seine Beamtenstelle, wird beruflich fortgeschickt, während seine junge Frau zu Hause auf Vergnügungsabenden zur Prostituierten gemacht wird – dies unter Mitwirkung ihrer Mutter. Muazzez selbst ist zu schwach (sie ist erst fünfzehn!), um sich gegen die sie bedrängende Umwelt zu wehren und durchlebt diese Phase wie einen Albtraum.
Diese Situation schreit förmlich nach einem Befreiungsschlag; und die Frage, ob Yusuf zum Kämpfen bereit ist, wird immer mehr zur zentralen Angelegenheit, die das Lesen dieses Buches bis zum Schluss so spannend macht. Yusuf gleicht in dieser angespannten und schier ausweglosen Lage einer großen Figur aus der griechischen Klassik: Odysseus. Wie dieser bleibt Yusuf seiner Heimat fern und kann nicht verhindern, dass seine Frau von anderen Männern umschwärmt und bedrängt wird. Während er gezwungenermaßen in der Fremde umherschweift, werden in seinem Haus "Schandtaten" verübt. Er ist aufgefordert Rache zu üben.
Wer sich in diesen episch ausgreifenden Roman versenkt, wird durch eine bilderreiche Sprache belohnt, die mit großer formal-stilistischer Sicherheit – wiederum hervorragend übersetzt von Ute Birgi – ein breit gefächertes Panorama von einer scheinbar weit entlegenen Zeit schafft, die uns doch im Detail so lebendig und nah erscheint, als würde sich die Geschichte vor unseren Augen abspielen.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Sabahattin Ali: "Yusuf“, aus dem Türkischen von Ute Birgi, 368 Seiten, Dörlemann-Verlag, Zürich 2014