Die fabelhafte Musikwelt der ''Muwashahat''
Seit wann und weshalb interessieren Sie sich für die arabisch-andalusische Musik?
Michèle Claude: Meine Familie stammt aus dem Mittelmeerraum und verbrachte 30 Jahre in Tunesien. Meine Mutter ist Korsin. Also drehte sich alles ums Mittelmeer. Ich habe sehr viel tunesische Musik gehört. Mein Vater hat sich oft in den französischen Cafés des Pariser Viertels Belle Ville aufgehalten, wo viele Nordafrikaner leben. Er hat sich nicht sehr gut an die französische Kultur angepasst, und er fühlte sich, nachdem meine Eltern nach Frankreich gekommen waren, etwas verloren.
Die sogenannte arabo-andalusische "Muwashah"-Musik aus dem 9. Jahrhundert hat Sie dazu angeregt, diesen musikalisch zu interpretieren und zu neuen Synthesen verschmelzen zu lassen. Wie sind Sie auf diese Musikgattung gestoßen?
Claude: Als ich mich mit der arabisch-andalusischen Musik beschäftigte, entdeckte ich den "Muwashah" (Plural: "Muwashahat"), der meinem Anliegen sehr entsprach, vielleicht weil er die klassische Musik mit dem Rhythmus verbindet. All diese Melodien sind wunderschön und im Westen kaum bekannt. Ich sagte mir: 'Das kann doch nicht wahr sein, dass man hierzulande diese Musik weiterhin ignoriert, obwohl sie ganz in unserer Nähe existiert!'
So untersuchte ich über 200 "Muwashahat" – insgesamt habe ich aber wohl rund 500 davon gehört. Der syrische Musiker Abed Azrie hat mir mehr als 20 CDs mit dieser Tanzmusik aufgenommen und mir zudem viele Noten gegeben. Ich entschied mich zu Beginn für 13 "Muwashahat" und interpretierte sie frei nach meinen Vorstellungen. Dabei veränderte ich die Grundstimmung der einzelnen Stücke nicht.
Was fasziniert Sie an dieser Musik?
Claude: Die arabisch-andalusische Musik zieht mich sehr stark an, weil sie gleichzeitig zwei große Musikkulturen enthält. Sie ist auf jeden Fall klassische Musik, sie stellt sowohl den Beginn der klassischen westlichen Musik, als auch der klassischen arabischen Musik seit sehr, sehr langer Zeit dar. Der arabisch-andalusischen Musikkultur fühle ich mich sehr verbunden.
Diese Musik stellt ja eine Synthese orientalischer, maghrebinischer und spanischer Klänge dar. Deshalb lässt sie sich mit den europäisch-westlichen polyphonen und harmonischen Elementen leichter kombinieren als andere orientalische Musiken?
Claude: Die Beziehung zwischen der alten arabischen und der frühen europäischen Musik sieht man anhand der Kompositionen. Die Musiker hatten damals beim Spiel die Möglichkeit der Improvisation.
Es existiert eine Beziehung zwischen dem Klang der alten Instrumente, die mehr musikalische Wärme erzeugen, und den orientalischen Instrumenten. Ein Beispiel ist die Fidel: Ihre Saiten sind aus Darm hergestellt. Sie klingen deshalb noch sehr ursprünglich und sie verleihen dem Instrument diesen warmen Klang, der sich deutlich von dem der modernen Violine unterscheidet. Außerdem sind die Musiker früher gewöhnt gewesen, die Stimmung des Instruments zu verändern – eine weitere Verwandtschaft mit der orientalischen Musik. Das ermöglichte mir, eine Synthese zwischen westlicher Harmonik und orientalischer Musik herzustellen.
Nach welchen Kriterien haben Sie die alten Instrumente ausgewählt?
Claude: Wir haben die Flöte in ihren verschiedenen Formen benutzt: die Holzflöte aus dem 19. Jahrhundert, dann die F-Flöte und die Bass-Flöte. Hinzu kommen Violine, Viola, die Fidel, die Viola da Gamba und der Kontrabass. Die Musikgruppe ist ein klassisches Quintett. Die Harmonie wird durch das Epinette und das Psalterium erzeugt. Der Klang dieses Instruments erinnert an den Klang der Santour und der Qanun in der orientalischen Musik.
Die Klänge des Epinettes und des Psalteriums vermitteln zusammen den Eindruck eines Cembalos. Hinzu kommen die Rhythmusinstrumente, die ich spiele. Bei manchen Stücken hatten wir eine Barockgitarre und ein Archiluto dabei, der ähnlich wie eine Barock-Theorbe klingt. In einem einzigen Stück hat ein persischer Musiker die Nay gespielt, um eine orientalische Atmosphäre zu schaffen.
Sind manche Elemente der arabo-andalusischen Musikwelt auch mitteleuropäischen Ohren durchaus vertraut?
Claude: Ja, zum Beispiel, meine erste CD "Jardin de Myrtes", die mit dem Stück Samai beginnt, das die "Muwashah" einleitet. Das Stück ähnelt einer Ouvertüre Bachs.
Diese orientalische Musikform enthält einen Abschnitt, den man mit dem Buchstaben A bezeichnet. Außerdem gibt es eine rhythmische Improvisation, die man "ternaire" nennt. Anschließend kehrt man dann wieder zurück zum Abschnitt A. Man hat wirklich den Eindruck, ein Stück aus einer europäischen Ouvertüre zu hören.
In Ihren Arrangements verbinden sich die vielfarbigen Klänge früher europäischer Saiten-Instrumente mit der treibenden Energie orientalischer Perkussion. Sind diese Grenzüberschreitungen gewollt?
Claude: Ich weiß nicht mehr, was ich damals genau gesucht habe, aber ich kann mich an eine Sache noch sehr gut erinnern: Die "Muwashah" enthielt ein Element des Salsa, was mich interessierte. Es war für mich ganz offensichtlich, auf den ersten Blick erkennbar, dass es darin ein Salsa-Element gibt.
Als ich das den anderen Musikern unserer Gruppe sagte, haben sie mich alle mit großen Augen angesehen und überhaupt nicht verstanden, was ich damit sagen wollte. Da war es völlig evident und lag auf der Hand, aber für die anderen eben nicht. Für mich war das eigentlich bei allen Stücken so. Jedes Stück hatte eine bestimmte Klangfarbe und ich hatte in jedem Fall eine klare Vorstellung davon, was ich daraus machen könnte.
Alle "Muwashahat"-Stücke waren ursprünglich für den Gesang gedacht. Sie haben sie in Instrumentalstücke umgeschrieben. Wie haben Sie sich von der Strenge dieser traditionellen Musik lösen können?
Claude: Entweder habe ich so verfahren, dass ich mir die Musik zunächst auf Platte angehört und dann die Noten aufgeschrieben habe. Es musste unbedingt eine Zwischenphase über das Papier geben, eine schriftliche Phase hindurch gehen, damit ich mich von dem traditionellen arabischen Geist dieser Musik frei machen konnte. Ich musste diese Musik neu entdecken. Und dazu war es unbedingt nötig, dass es zuerst eine Verschriftlichung geben musste.
Aber klar ist auch: Wenn ich diese Rhythmik nicht schon vorher kennengelernt und selbst gespielt hätte, dann wäre mir das alles wohl nicht gelungen. Manchmal habe ich auf Sammlungen zurückgegriffen, die Leute aus Aleppo oder aus Beirut zusammengestellt haben. Oder ich habe selber Musik transkribiert, die ich auf Platte gehört habe.
Sie haben mit französischen und deutschen Musikern dieses Projekt realisiert. War es schwer, solche orientalischen Melodien zu spielen?
Claude: Ja, denn bei den ersten Arrangements war es so, dass ich nicht die Originalmodi übernehmen konnte. Und es stand für mich außer Frage, dass ich ausschließlich etwas Arabisches komponieren würde, was meine Musiker nicht konnten. Die Basis der westlichen Musik ist die Harmonie.
Ohne also die arabische Melodie und die arabischen Rhythmen zu zerstören, die weiter im Vordergrund stehen sollten, musste ich etwas hinzufügen, das den Musikern entsprach. Aber – kurz gesagt – stellt diese Musik die Basis unserer westlichen Musik und Kultur dar. Und wenn ich diese Musik schreibe, dann spricht sie mich an, weil es auch meine eigene Musik ist.
Interview: Suleman Taufiq
© Qantara.de 2011
CDs von Michéle Claude:
- Jardin De Myrtes: Melodies Andalouses Du Moyen-Orient 2004
- Rayon De Lune Musique des Ommeyades 2007
- Partage - Melodies Andalouses 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de