„Rechenschaft ist wichtiger als Bestrafung“

Zwei Männer klettern auf eine in Trümmern liegende Statue
Gestürzt wie sein Sohn: Statue von Ex-Präsident Hafiz al-Assad (1970-2000) bei Damaskus (Foto: picture alliance / Anadolu | E. Erturk)

Wie schafft man Gerechtigkeit nach dem Schrecken? Der Soziologe Mohammed Bamyeh sieht Zeichen, dass Syriens neue Führung die Vergangenheit aufarbeiten will, warnt aber vor Selektivjustiz.

Interview von Morgane Llanque

Herr Bamyeh, wenn von Syrien die Rede ist, wird oft betont, wie wichtig jetzt »Transitional Justice« sei. Was verstehen Sie darunter?

Die Grundidee bei der Transitional Justice ist, dass man in einer Gesellschaft nach einer Zeit des Konflikts versucht, ein gemeinsames Narrativ über das Geschehene zu entwickeln. Dabei geht es nicht zwangsläufig um Bestrafung, auch wenn das ein Teil von Transitional Justice sein kann. Wichtiger sind Rechenschaft, Wahrheit und Verantwortung. Das soll dazu beitragen, dass Post-Konflikt-Gesellschaften mehr Stabilität erlangen. 

Entwickelt wurde das Konzept nach dem Zweiten Weltkrieg und den Nürnberger Prozessen in Deutschland. Welche Fehler wurden damals gemacht, und was können wir heute aus diesen Fehlern lernen?

Nürnberg war problematisch. Dort sprach der Sieger Recht über die Besiegten. Das kann in manchen Fällen gerechtfertigt sein. Doch nehmen wir das Beispiel Japan: Die USA führten Prozesse wegen japanischer Kriegsverbrechen, aber darüber, dass die USA zwei Atombomben auf die Zivilbevölkerung abgeworfen hatten, sprach niemand. Wegen dieser Art von Selektivjustiz sind wir vom Siegermodell abgerückt und haben versucht, einen neutraleren Ansatz zu entwickeln.

In Syrien stellt das bisher herrschende Narrativ Assads Verbrechen in den Fokus und blendet die Taten anderer Akteure aus. Wieder sehen wir das Modell der Sieger und Besiegten. 

Genau. Im März 2025 wurde an der syrischen Küste ein Massaker an Alawiten verübt. Danach wurde eine Ermittlungskommission eingesetzt, die diese Woche einen Bericht vorgelegt hat. Das ist ein gutes Zeichen. Allerdings hat die Kommission die Liste mit mutmaßlichen Tätern nicht veröffentlicht, sondern nur dem Präsidenten übergeben. Trotzdem ist klar, dass auch mit der Regierung verbündeten Gruppierungen Rechtsverstöße begangen haben.

Ob sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden, hängt davon ab, wie stark die syrische Zivilgesellschaft ist. Transitional Justice kann auch von ihr ausgehen — also von den Opfern, ihren Angehörigen, von Aktivistinnen und Aktivisten. In langanhaltenden Bürgerkriegen werden von allen Seiten Verbrechen verübt, sodass sich die Frage stellt: Ist eine Form von Gewalt vertretbarer als eine andere?

Ein Porträt von Professor Mohammed Bamyeh. (Foto: Privat)
Soziologe

Mohammed Bamyeh ist Professor für Soziologie an der University of Pittsburgh. Er ist Experte für arabische Widerstandsbewegungen, Anarchie und den Islam.  Derzeit ist er Einstein Visiting Fellow an der Freien Universität Berlin. 

Im Mai gab Syrien die Einrichtung zweier Transitional-Justice-Kommissionen bekannt. Ist das eine echte Chance zum Dialog oder bloß eine symbolische Geste?

Die Initiative ist gut. Ob das wirklich funktionieren wird, wissen wir noch nicht. Es braucht Zeugen, Dokumente und ein vertrauenswürdiges Justizwesen.

In Tunesien gab es nach der Revolution von 2011 einen Transitional-Justice-Prozess, von dem Präsident Marzouki später sagte, er sei gescheitert. Niemand wurde wirklich zur Verantwortung gezogen oder hat sich eindeutig entschuldigt. Im Staatsapparat war das alte Regime weiter stark präsent. Die Revolution ist also in gewisser Weise auch gescheitert, weil das alte Regime nie vollständig beseitigt wurde.

Ein weiteres arabisches Land, auf das dies zutrifft, ist der Libanon. Über dreißig Jahre nach dem dortigen Bürgerkrieg gibt es weder eine nationale Gedenkstätte noch einen offiziellen Prozess zur Wahrheitsfindung. Was kann Syrien daraus lernen?

Im Libanon lässt sich studieren, was passiert, wenn eine Politik des Schweigens betrieben wird. Nach 15 Jahren Bürgerkrieg wurde im Libanon niemand bestraft. Viele Kriegsverbrecher tauchten sogar in der Regierung auf. Der Gedanke war: Den Frieden sichern können nur die Bewaffneten. Deshalb bestrafen wir sie nicht. 

Im Libanon hat man sich bis heute nicht auf ein gemeinsames Geschichtsbild verständigt. Der schulische Lehrplan endet mit der Unabhängigkeitserklärung von 1943. Dieses System gründet auf Amnesie. Aber das tägliche Leben geht weiter. Über die konfessionellen Trennlinien hinweg werden Ehen geschlossen und Geschäfte gemacht. Der gesellschaftliche Versöhnungsprozess wird von unten vorangetrieben. Aber politisch wird das System nach wie vor von den führenden Akteuren des Bürgerkriegs dominiert. 

Vielleicht muss erst eine Generation wegsterben, bis sich ein neuer Konsens herausbilden kann. Bis dahin bleibt der Frieden brüchig – ein kalter Frieden. Ein anderes Beispiel dafür ist Nordirland. Dort wurde der Konflikt formell beigelegt, aber eine wirkliche Rechenschaft gibt es nicht. Die Trennung zwischen den beiden Gemeinschaften besteht bis heute fort. 

Alte Ressentiments werden an die neue Generation vererbt.

Genau. Wenn die Menschen kein gemeinsames Narrativ haben, wirkt die Verbitterung fort. Auch der Frieden zwischen Ländern kann ein kalter Frieden sein. Ägypten und Jordanien haben Friedensabkommen mit Israel geschlossen, aber dieser Frieden beschränkt sich auf die staatliche Ebene. Die Bevölkerungen sind sich nach wie vor feindselig gesinnt. 

In Deutschland bildete sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Laufe der Zeit ein gemeinsames Narrativ heraus — der Faschismus wurde von allen verurteilt. Dadurch wurde Versöhnung möglich. 

Zwischen Israel und Palästina, zwischen Israel und Ägypten et cetera ist das nicht so. Israelis sagen mir im Gespräch: »Wir bleiben bei unserem Narrativ, die bleiben bei ihrem.« Ich glaube nicht, dass das funktionieren kann. Deshalb bin ich im Augenblick pessimistisch, was diesen Konflikt angeht. In Syrien müssen wir beobachten, wie die Dinge sich entwickeln.

Haben Sie momentan den Eindruck, dass die Zivilgesellschaft dort wirklich in den Prozess eingebunden wird?

Nach meinen Informationen haben die Menschen in Damaskus heute das Gefühl, dass sie frei reden können. Das ist neu. Fünfzig Jahre lang durften die Menschen nicht ihren Mund aufmachen. Die Zivilgesellschaft ist dabei zu wachsen — oft mit Hilfe der Diaspora.

Nachdem viele wichtige Dokumente in den letzten Tagen des Assad-Regimes vernichtet wurden, trat die Diaspora in Aktion. Syrerinnen und Syrer in Berlin sammeln zum Beispiel Material, übernehmen organisatorische Aufgaben, kehren sogar nach Syrien zurück, um mit dem neuen Präsidenten zu sprechen.

Welche Rolle spielen die religiösen Gruppen und Minderheiten? 

Als im Juni ein Bombenanschlag auf eine christliche Kirche verübt wurde, verurteilte die Regierung den Angriff öffentlich und leitete sofort eine Untersuchung ein. Das liegt natürlich in ihrem eigenen Interesse. 

Auch im Juli nach den Kämpfen in Suwaida sprach Al-Scharaa öffentlich davon, dass alle Syrer:innen gleichberechtigt seien. Er muss demonstrieren, dass er gewillt ist, Minderheiten zu schützen, denn sonst verliert seine Regierung den internationalen Rückhalt und die Unterstützung im eigenen Land. 

Deshalb ist die Gewalt zwischen drusischen und sunnitischen Gruppen in Suwaida so gefährlich: Sie könnte die Spaltung des Landes entlang ethnischer und konfessioneller Linien befördern. Besonders, weil auch Regierungstruppen oder zumindest verbündete Gruppen an den Massakern an drusischen Zivilist:innen beteiligt waren. Ein weiterer gefährlicher Eskalationsfaktor ist die Einmischung Israels in diesen Konflikt, dessen aktuelle Regierung eine Teilung Syriens befürwortet.

Baschar al-Assad hält sich in Russland versteckt. Wie kann die Gesellschaft heilen, solange er nicht zur Rechenschaft gezogen wird?

Assad ist inzwischen möglicherweise bedeutungslos. Man kann jemandem auch in Abwesenheit vor Gericht stellen. Das wäre das Maximum dessen, was im Rahmen der bestehenden internationalen Ordnung an Recht und Gerechtigkeit möglich ist. Viele Nazis zum Beispiel haben sich der Justiz entzogen. Trotzdem kann der Wiederaufbau einer Gesellschaft gelingen, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass das System am Ende gerecht ist.

Aber wie kann das gelingen, wenn die eigene Regierung nicht demokratisch gewählt wurde? 

Das ist eine berechtigte Frage. In meiner Analyse der arabischen Revolutionen habe ich geschrieben, dass Mehrheitsherrschaft nie eine gute Idee ist. Der Grund: Wenn sich an einer Revolution in einem Land die meisten Menschen beteiligen oder die Mehrheit der Bevölkerung sie unterstützt, werden die 49 Prozent nicht zulassen, dass die 51 Prozent sie regieren, weil auch die 49 Prozent die Revolution gemacht haben. Deshalb muss ein neues System glaubhaft vermitteln, dass alle von ihm vertreten werden. 

Ist das in irgendeinem arabischen Land nach dem Arabischen Frühling gelungen?

In Tunesien repräsentierten in den ersten Jahren nach der Revolution die politischen Parteien rund 75 Prozent der Bevölkerung. Deshalb konnte das tunesische Experiment zehn Jahre Bestand haben – nicht für immer, aber immerhin. Es kamen noch andere Faktoren hinzu, aber die Situation war sehr viel stabiler als zum Beispiel in Ägypten, wo das Experiment nur zwei Jahre währte.

Aus diesem Grund steht für die syrische Regierung die Transitional Justice momentan vielleicht nicht ganz oben auf der Prioritätenliste. Parallel muss ein komplett zerstörtes Land wieder aufgebaut werden. Es braucht Entwicklung, es braucht eine Verfassung. Sonst wird es keine Stabilität geben.

Wie steht es mit dem kulturellen Aspekt der Erinnerungspolitik? Welche Bestrebungen gibt es in dieser Hinsicht?

Die Statuen der Assad-Ära wurden gestürzt. Das Erste, was nach dem Regimewechsel auf öffentlichen Plätzen zu sehen war, waren von den Menschen aufgehängte Plakate mit Bildern von Vermissten. Das sind die Anfänge einer Erinnerungskultur der anderen Art — persönlich und unmonumental.

Werden die Assad-Standbilder durch Statuen der jetzigen Regierung ersetzt werden? Oder halten Sie es für möglich, dass es wie in Deutschland Gedenkorte geben wird, die das Leid der Opfer in den Mittelpunkt stellen?

Im Irak gibt es ähnlich kraftvolle Skulpturen wie in Deutschland, die sichtbar machen, wie der Krieg sich auf die Bevölkerung auswirkte. Das ist mir lieber als Statuen von selbsternannten Helden. Doch das Stürzen von Diktatorenstatuen kann auch Gefahren mit sich bringen. In den USA gab es eine Debatte über Statuen von Südstaaten-Generälen. Ich finde: Zerstört sie nicht, sondern bietet historischen Kontext. Die Menschen sollen die Hässlichkeit der Geschichte sehen.

 

Dieser Text erscheint in Kürze auch in einer gemeinsamen Ausgabe von Qantara und dem Magazin Kulturaustausch. Weitere Analysen, Interviews und Reportagen finden Sie in unserem Syrien-Schwerpunkt.

  

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