"Wir kennen unser eigenes Erbe nicht"
Herr Khemir, in Ihrem neuen Film folgen sie den Spuren von Muhyiddine Ibn Arabi, einem großen islamischen Theologen, Philosophen und Dichter aus dem 13. Jahrhundert. Was hat Sie zu diesem Film vor allem motiviert?
Nacer Khemir: "Looking for Muhyiddine" ist ein Film über den großen Mystiker Scheich Muhyiddine. Der Film ist eine Suche nach dieser Persönlichkeit durch zehn verschiedene Länder, wobei man das Wichtigste über die islamische Religion erfährt. Wer diesen Film sieht, bekommt eine sehr klare Idee davon, was der Islam ist.
Und was ist der Islam des Ibn Arabi?
Khemir: Die Antwort ist in vielen kleinen Nuancen zu finden. Ich habe hier ein Gedicht von ihm, das seine philosophische Grundhaltung gut reflektiert:
"Mein Herz ist nun in der Lage, alle Formen anzunehmen.
Es ist Weideland für die Gazellen und Kloster für die Mönche, Tempel für die Idole und es ist die Kaaba für die Pilger.
Es ist die Tafeln der Thora, das Buch des Koran, es praktiziert die Religion der Liebe – egal an welchem Ort, wohin sich auch immer die Karawanen wenden.
Die Liebe ist mein Gebot, die Liebe ist mein Glaube."
Das erklärt den Islam ziemlich genau: Es handelt sich um eine Vision des Islams, die sehr wenig bekannt ist. In dieser ganzen Unordnung bezüglich des Islams war es mir ein Anliegen, das Denken dieses Scheichs wieder bekannter zu machen. Er bringt Klarheit in diese Unordnung.
Könnten Sie das noch etwas präzisieren?
Khemir: Ich gebe ihnen ein Beispiel: Während einer bestimmten Epoche war die Sauberkeit, die Reinheit ein Zeichen des Islams. Heute haben wir in Tunesien die dreckigsten Straßen der Welt. Das zeigt gut auf, wie eine Art Perversion im Namen einer Religion in Gang gekommen ist. Heute wird der Islam in Tunesien von eine Art Klerikerklasse in Geiselhaft genommen. Die Kleriker deformieren den Islam und damit das Leben zu einer Art binären Angelegenheit. Alles ist entweder "haram" oder "halal" – unerlaubt oder erlaubt.
Ich habe auf den Film bisher nur positive Reaktionen erhalten. Aber die tunesische Gesellschaft ist im Moment mit etwas anderem beschäftigt. Sie ist ein wenig taub, wenn es um die Kultur geht, und auch um den Islam.
Aber es gibt ja sehr viele Mensche in Tunesien, denen der Islam wichtig ist.
Khemir: Die Machthaber unter Ben Ali haben dafür gesorgt, dass die Seelen der Tunesier verkümmert sind. Bestimmt hat er auch dafür gesorgt, dass sich ein paar Menschen materiell bereichern konnten, aber die meisten haben seelisch gelitten unter dieser Verbreitung der Angst. Wir haben deshalb heute in Tunesien sehr gebildete Menschen mit außergewöhnlich guten Diplomabschlüssen, ihre menschliche Seite ist jedoch arm geblieben. Sie denken, dass die Wahrheit nur wissenschaftlich erklärbar ist, dass das ein Teil der Moderne ist.
Die Geisteswissenschaften werden an den Rand gedrängt, die Philosophie, die Literatur, die Künste – all das hat keinerlei Gewicht für sie. Es herrscht ein mechanisches, ein technisches Weltbild vor. Wenn man das auf eine musikalische Skala übertragen würde, dann leben diese Menschen in einem System aus nur zwei, drei Noten.
Es gibt also eine gewisse Leere, die die Diktatur hinterlassen hat…
Khemir: Zweierlei: Einerseits gibt es diese Leere, andererseits das Erschrecken vor der Komplexität dieser Welt. Doch statt sich dieser Herausforderung zu stellen, hören die Leute auf zu denken und stellen sich hinter jemanden, der für sie denkt, zum Beispiel eine Partei oder ein Prediger. Sie geben auf und sind einfach feige. Feigheit gepaart mit Unwissenheit – das ist eine Mischung, die Menschen dazu bringen kann, die schlimmsten Dinge im Namen der Wahrheit zu begehen.
Wie ist denn all das Wissen um die Werte dieses Islams verloren gegangen? Es gab doch eine reiche universitäre Tradition. Gerade die Zitouna-Universität in Tunis hätte einen Ruf zu verteidigen.
Khemir: Die Universitäten haben zu großen Teilen die westliche Kultur angelehnt ohne gleichzeitig die arabische Kultur zu hinterfragen und sie zu erneuern. Die profunde Auseinandersetzung mit der arabischen Kultur – d.h. also was es zu bewahren gilt und was kann man getrost hinter sich lassen kann –, wurde nie von Grund auf geführt. Die einen wollen alles wieder so haben wie früher und zu den Vorfahren zurückkehren, sich nicht bewegen – das sind die Salafisten. Und die andern wollen davon gar nichts wissen und wollen nur die Moderne, die Wissenschaft und die Technik – das sind die Säkularisten.
Im Grunde genommen ist es kein religiöses Problem, sondern ein kulturelles. Es ist eine Art Inakzeptanz, dass sich die Welt gerade im Umbruch befindet und dass man dabei auch etwas verlieren kann. Und weil es nicht gelungen ist, diesen Problemen intellektuell zu begegnen, hat man den religiösen Schutzschild ausgepackt. Das ist ein großer Fehler.
Zudem sind nur wenige Tunesier, die im Ausland studiert haben, in ihr Land zurückgekehrt. Was man aus der Konfrontation mit dem Westen hätte lernen können, wäre eine erneute Lektüre des Islams gewesen.
Und warum hat man diese neuerliche Lektüre nie vorgenommen?
Khemir: Weil es keine Grundlage gibt, auf der man die Recherche beginnen kann. Niemand hat sie finanziert, obwohl es im arabischen Raum sehr viele Petromillionäre gibt. Es gibt nicht einmal ein historisches Wörterbuch der arabischen Sprache. Ich sage oft: Wenn die Hoffnung sich an der Menge der Arbeit misst, die noch vor uns liegt, dann müssten wir die Menschen sein, die am meisten Hoffnung haben, weil wir noch soviel zu tun haben.
Seit über 50 Jahren gibt es in Tunesien keinen Platz für eine Kultur, die nicht nur ein Abdruck oder eine Kopie ist, sondern eine Kunst, die über eine Vision verfügt, Antworten zu finden, wo die Logik aufhört oder die Vernunft keine Lösung findet. Kultur wird in Tunesien vor allem als ein Spektakel gefeiert – ein Fest, reine Unterhaltung. Jedes kleine Dorf hat sein Festival, verglichen damit ist die qualitativ hochstehende kulturelle Produktion relativ klein. Obwohl das Land ein reiches kulturelles Erbe hat, kennen wir unsere Schriftsteller, Kalligraphen und Architekten nicht. Mit dieser Anonymität schaufelt sich die Kultur ihr eigenes Grab. Wir kennen unser eigenes Erbe nicht.
Sie zeichnen ein sehr schwarzes Bild von der Kultur Ihres Landes...
Khemir: Die Abwesenheit von Qualität und Exzellenz ist überall ersichtlich. Doch Exzellenz ist eine Herausforderung. Und das wiederum verlangt nach Präzision. Doch wir versuchen uns ständig irgendwie mit den Verhältnissen zu arrangieren. Seit Jahren haben wir immer wieder Mittel gefunden, uns aus der Verantwortung zu stehlen, im Zick-Zack-Kurs zu laufen. Doch wie wollen wir frei sein, ohne wirkliche Verantwortung zu übernehmen? Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Stattdessen haben wir uns gegenseitig zur Unverantwortlichkeit erzogen und uns mit den Verhältnissen arrangiert. Die Gesellschaft fällt nach und nach in eine Art Sumpf, aus dem sie sich nicht mehr aus eigener Kraft herausziehen kann.
Mit welchen Schwierigkeiten hat die jüngere Generation in Tunesien zu kämpfen?
Khemir: Wir haben es heute mit einer jungen Generation ohne Identität zu tun, ohne Wurzeln, schwerelos. Jeder kann mir von seinem ipad erzählen, alle surfen an der Oberfläche und sprechen über die letzten Erfindungen, als ob wir in einer amerikanischen Stadt wären. Aber wir sind in Tunis.
Was mir wirklich Sorgen macht, ist dieser Hass der sich überall einnistet. Der Hass der Islamisten auf den Westen, der Hass der Linken auf die Islamisten. Es ist so als wenn der Hass gegenwärtig der einzige Motor ist, um überhaupt noch vorwärtszukommen.
Mein Film handelt vom Gegenteil: Er beruhigt und befriedigt. Er zeigt den Islam als eine Kultur der Versöhnung auf, als eine Versöhnung mit sich selbst und mit den andern. Und er zeigt auch, dass man dafür arbeiten muss, um füreinander Verständnis aufzubringen.
Christina Omlin
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de