''Einen Gottesstaat sehe ich nirgends entstehen''
Herr Professor Perthes, welchen Zeithorizont geben Sie dem "Arabischen Frühling"?
Volker Perthes: Ich benutze den Ausdruck Frühling nicht, weil er zu viel Ungeduld zum Ausdruck bringt und nicht dazu einlädt, sich über ein langfristiges strategisches Engagement Gedanken zu machen. Wir wissen aus anderen Transformationsprozessen etwa in Osteuropa, dass die Überwindung autoritärer Strukturen nicht in einem Vierteljahr zu schaffen ist. Das kann viele Jahre, möglicherweise Jahrzehnte dauern.
Was wird am Ende in den arabischen Staaten herauskommen: Gottesstaaten, Demokratien, Stammesrepubliken?
Perthes: Es wird auch in Zukunft in der arabischen Welt nicht nur ein Staatsmodell geben. Das ist auch jetzt nicht so, wir haben Republiken, Monarchien, mehr oder weniger autoritäre oder liberale Regime. In den nächsten zehn Jahren werden diese Unterschiede sogar noch größer werden als in der Vergangenheit. Wir werden sehr autoritäre Systeme haben, liberale und wie ich hoffe "nachhaltige", sich selbst tragende Demokratien – am ehesten in Tunesien. Einen Gottesstaat sehe ich nirgends entstehen.
Aber die Islam-Parteien sammeln kräftig Stimmen …
Perthes: Der Islam gehört zum politischen Spektrum in diesen Ländern. Das hat mit einer konservativ-religiösen Grundstimmung zu tun, aber auch damit, dass diese Bewegungen lange Zeit in der Opposition waren. Viele Menschen billigen den Religiösen einen Vorsprung in Sachen Moral zu. "Nieder mit der Korruption" war schließlich ein wichtiger Schlachtruf. Die wenigsten werden die islamischen Parteien aber aus religiösen Gründen wählen. Sie erwarten, dass sie ihre Probleme – politische, wirtschaftliche, moralische – lösen können.
Wird es nicht spätestens dann, wenn die religiösen Vorstellungen mit den Grundlagen der Demokratie in Konflikt geraten – Frauenrechte, Meinungsfreiheit – kritisch?
Perthes: Das ist richtig. Dahinter steht die Frage, ob die politisch-islamischen Gruppierungen sich an die Regeln der – noch zu etablierenden – Demokratien halten werden. Akzeptieren sie, dass sie gewählt und auch wieder abgewählt werden können? Richten sie ihre Politik danach aus, dass sie pragmatische Regierungsarbeit anbieten müssen, um wiedergewählt zu werden? Oder lassen sie sich von fundamentalistischen Gruppen an die Wand drücken?
Wie kann die Europäische Union den Transformationsprozess unterstützen?
Perthes: Die EU hat einen ganzen "Werkzeugkasten" parat, um politische Transformationsprozesse zu unterstützen, mit Wahlbeobachtern und Wahlhelfern, Verfassungsjuristen, Spezialisten für Eigentums- oder Wirtschaftsrecht. Da ist die EU gut aufgestellt. Dann gibt es die bekannten drei "Ms": "money, market and mobility". Geld wird immer gern genommen – aber die EU weiß auch, dass sie da nicht mit den reichen Golfstaaten konkurrieren kann.
Und die anderen "Ms"?
Perthes: Markt wie Marktzugang – da ist bereits viel geschehen, aber wir haben nach wie vor saisonale Quoten für die Einführung bestimmter Agrarprodukte. Eine völlige Öffnung wäre ein politisches Zeichen. Das dritte M ist für mich das Wichtigste: Mobilität.
Was heißt das konkret?
Perthes: Wir haben der Bundesregierung zum Beispiel ein Programm zur Berufspraxis für junge Ingenieure und Ärzte vorgeschlagen. Sie haben eine akzeptable Universitätsausbildung in ihren Heimatländern genossen, aber keine Chance auf Berufspraxis. Diese könnten sie bei uns bekommen. Oder einen Ausbildungspakt: Europäische Firmen bieten Traineeships an, in denen junge Fachkräfte genügend Berufserfahrung erhalten, um anschließend im eigenen Land einen Betrieb zu gründen und Arbeitsplätze zu schaffen.
Solarstrom aus der Wüste – sehen Sie eine Chance in einer neuen Energiepartnerschaft zwischen Nordafrika und Europa?
Perthes: Europa braucht saubere Energie und Nordafrika Elektrizität und Stromnetze. Investitionen, technisches Wissen, Know-how haben die Europäer. Wichtig dabei: Es geht nicht allein um die Produktion von billigem Strom für Europa, es geht vor allem um den Aufbau einer sicheren Elektrizitätsversorgung in Nordafrika selbst. Das ist für mich der wesentliche Teil.
Wie sehen Sie in dem ganzen Zusammenhang den israelisch-palästinensischen Konflikt?
Perthes: Das ist ein Hemmschuh für die weitere Entwicklung – und ist es immer gewesen. Denken Sie an Pläne wie zum Beispiel den Bau einer Autobahn entlang des Mittelmeers von Marokko bis in die Türkei – ein Projekt, das Staaten zusammenbringen und viele Arbeitsplätze schaffen würde. Denken Sie an Wasserprojekte, die nicht zustande kommen, weil es kein Vertrauen gibt.
Kann die USA die Entwicklung voranbringen?
Perthes: Ohne sie wird es nicht gehen, die Konfliktparteien zu den Zugeständnissen zu bringen, die sie machen müssen, um eine Lösung durchzusetzen, von der alle wissen, dass es die einzig mögliche ist: die Zweistaatlichkeit.
Sie beschließen Ihr Buch mit dem Ausblick auf die beiden Weltmodelle: Nicht das chinesische Modell habe in der arabischen Revolution gesiegt, sondern das demokratische Modell des Westens.
Perthes: Wir haben bei den arabischen Revolten gesehen: Wo die Menschen auf die Straße gehen, stellen sie die Forderung nach einem demokratischen Modell, nicht nach einem chinesischen, einem saudischen oder iranischen. Sie wollen Partizipation und soziale Gerechtigkeit. Die Politiker aus diesen Staaten, die ja inzwischen auch abgetreten sind, haben uns zwar immer wieder versichert: Drängt uns nicht in Richtung demokratische Öffnung, wir haben in China ein gutes Vorbild – wirtschaftliche Entwicklung und autoritäre Herrschaft. Die Bevölkerung hingegen hat deutlich gezeigt, dass sie das nicht will: Wirtschaftswachstum ja, aber ohne Partizipation und soziale Gerechtigkeit akzeptieren die Menschen dies nicht.
Interview: Volker Thomas
© Goethe.de, 2012
Prof. Dr. Volker Perthes ist seit 2005 Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die den Bundestag und die Bundesregierung in außenpolitischen Fragen berät. Er ist darüber hinaus außerplanmäßiger Professor an der Humboldt-Universität und Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. Ende 2011 erschien im Pantheon Verlag sein Buch „Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen“.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de