„Bei einem gerechten Wiederaufbau stehen die Menschen im Mittelpunkt“

Architekten beraten inmitten von Ruinen über den Wiederaufbau
Edwar Hanna und Nour Harastani von Syrbanism bei einem Besuch der deutschen Entwicklungsministerin Svenja Schulze in Dschubar, Damaskus, 15. Januar 2025. (Foto: Leen Almahaini)

Seit 2017 bringt Syrbanism Architekten und Stadtplaner aus der syrischen Diaspora zusammen. Nach dem Sturz Assads reisten die Gründer Edwar Hanna und Nour Harastani nach Damaskus, um ihre Vision eines demokratischen Wiederaufbaus weiterzuverfolgen.

Interview von Max Graef Lakin

Qantara: Was ist Syrbanism? Welche Vision hat die Gruppe für den Wiederaufbau Syriens?

Edwar Hanna: Nour und ich sind beide Architekten aus Damaskus. 2013 beziehungsweise 2014 haben wir Syrien verlassen, um in Europa Stadtplanung und partizipatorische Prozesse zu studieren. Während unseres Studiums wurde uns klar, dass niemand über Stadtplanung in Syrien spricht – eine echte Lücke in den Diskussionen. Das wollten wir ändern und haben deshalb Syrbanism gegründet.

Der erste Schritt zur Förderung partizipativer Prozesse in einem Land, in dem die Diktatur jeden Raum für Partizipation unterdrückt hat, ist Information. Daher haben wir Aufklärungskampagnen gestartet, zum Beispiel über die ungerechte Regelung des Eigentumsrechts und von Assad angestoßene Wiederaufbauprozesse.

Bei Syrbanism sind wir der Meinung, dass Städte ihren Bewohnern gehören und dass die Menschen Plattformen brauchen, um an der Gestaltung ihrer Städte mitzuwirken. Unsere Aufgabe als Architekten sehen wir nicht nur im Bau von Gebäuden, Straßen und Infrastruktur, sondern auch darin, die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen für ihre Städte, Stadtteile und Dörfer umzusetzen. Dazu zählt im Zweifel auch, Druck auf Entscheidungsträger auszuüben.

Uns ist bewusst, dass Wiederaufbau und Erholung in Ländern, die Konflikt erlebt haben, multi- und interdisziplinär gedacht werden muss. Alle – Juristen und Ökonomen, Aktivisten und schutzbedürftigen Gruppen – müssen gemeinsam daran arbeiten und ihren Beitrag leisten.

Nour Harastani: Seit acht Jahren arbeiten wir mit Leidenschaft an Syrbanism. Wir hatten immer eine Vision, aber ehrlich gesagt, hätte ich nie gedacht, dass wir tatsächlich zurückkehren und all das verwirklichen können, worüber wir seit Jahren sprechen.

Zwei Personen halten Syrbanism-Plakate zum Thema Wohnrecht
Syrbanism ist eine NGO, die 2017 von den Architekten Edwar Hanna und Nour Harastani in Berlin gegründet wurde. Im Januar organisierten sie erstmals öffentliche Veranstaltungen in Damaskus. Auf dem Bild: ein Plakat für eine Podiumsdiskussion über das Recht auf Wohnen und öffentliche Beteiligung, 10. Januar 2025. (Foto: Promo | Syrbanism)

Nach zehn Jahren in Europa sind Sie seit Januar wieder in Damaskus. Was waren Ihre ersten Eindrücke von einem Syrien nach Assad?

N. H.: Die Rückkehr war ein großes Abenteuer. Als Erstes haben wir viele Stadtviertel besucht, zu denen wir arbeiten: Al-Qaboun, Dschubar, Jarmuk und al-Tadamon. Jahrelang haben wir die Zerstörung dieser Gebiete dokumentiert und kartiert, aber das Ausmaß der Zerstörung mit eigenen Augen zu sehen, hat uns erschüttert. Es war überwältigend.

E. H.: Überrascht hat mich auch, wie sich Damaskus verändert hat, nicht nur die physische und gebaute Umwelt, sondern auch wie öffentlicher Raum jetzt anders genutzt wird.

Plötzlich gibt es keine Checkpoints mehr. Man kann sich also schneller durch die Stadt bewegen als vorher. Ohne die vom Regime errichteten Hindernisse wirkt die Stadt viel kleiner. Man kann an einem Gebäude der Sicherheitskräfte vorbeigehen, ohne Angst zu haben. Wir können überall fotografieren, was früher verboten war.

Und schließlich die Menschen. Es gibt einen enormen Hunger nach Dialog. Täglich finden Veranstaltungen und Diskussionen statt, entweder innerhalb von Communities oder auf Initiative von zivilgesellschaftlichen Gruppen. Das hätten wir uns für Damaskus nie träumen lassen.

Junge syrische Stadtplaner sitzen auf der Bühne und diskutieren über das Recht auf Beteiligung
Podiumsdiskussion über das Recht auf öffentliche Teilhabe, Damaskus, 10. Januar 2025. Von links nach rechts: Mohammad Haj Hasan von der Asas Foundation; Rania Kataf, Gründerin von Humans of Damascus; Mohammad Badran, Mitbegründer des syrischen Diaspora-Netzwerks in den Niederlanden; und Edwar Hanna, Mitbegründer von Syrbanism. (Foto: Leen Almahaini)

Ihre erste öffentliche Veranstaltung fand am 10. Januar in Damaskus statt. Was war das Thema?

E.H.: Im Vorfeld der Veranstaltung haben wir drei aktuelle Prioritäten für Syrbanism festgelegt: das Recht auf Wohnen, Partizipation sowie Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit.

Für uns, die wir die letzten zehn Jahre außerhalb Syriens gelebt haben, war es wichtig, nicht nach Damaskus zu kommen, um den Menschen vorzuschreiben, was sie tun sollen. Wir haben verschiedene Experten aus Syrien eingeladen und ihnen die Bühne überlassen: Anwälte für Wohnungs-, Land- und Eigentumsrecht, Stadtplaner, Wirtschaftswissenschaftler, Verfassungsrechtler und Experten für Denkmalschutz.

Seit Jahren setzt sich Syrbanism für Eigentumsrechte ein, besonders für die Bewohner „informeller“ Siedlungen in Syrien, die oft keine Chance haben, ihren Besitz nachzuweisen. Was sind heute die größten Herausforderungen?

E.H.: Eine große Zahl Geflüchteter kehrt nach Syrien zurück und muss feststellen, dass ihre Städte, Dörfer und Viertel zerstört sind. Eine Entschädigungsregelung gibt es nicht.

Wohnen ist ein Recht und ein Grundbedürfnis – es muss oberste Priorität haben. Die zentrale Frage lautet: Wie können wir diese Forderung in die Diskussion über eine neue Verfassung einbringen? Genau darum geht es in der aktuellen Debatte.

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N.H.: Was die Legalisierung „informellen“ Eigentums angeht, befinden wir uns in einer Grauzone. Wir haben keine Verfassung. Die meisten Menschen wissen nicht genau, auf welcher rechtlichen Basis sie Eigentumsrechte durchsetzen können. Es bleibt abzuwarten, wie genau die neue Regierung dieses Problem angeht.

In den großen Städten Syriens ist ein Drittel der Wohnungen zerstört – die Bilder sind erschütternd. Wir müssen dringend einen rechtlichen Rahmen für Eigentumsrechte schaffen und zugleich Unterkünfte bereitstellen.

Vor allem aber gilt es, die Öffentlichkeit einzubeziehen. Das bedeutet, Entwicklungsprojekte zu vermeiden, die an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigehen, und einen gerechten Wiederaufbau zu fördern, bei dem die Menschen im Mittelpunkt stehen. Die Menschen müssen bei jeder Entscheidung mitreden können.

In der Vergangenheit haben Sie Marota City, die geplante Hochhaussiedlung in Damaskus, als Symbol eines ungerechten Wiederaufbauprozess dargestellt. Sie soll auf dem Gelände einer zwangsgeräumten informellen Siedlung entstehen. Was ist der aktuelle Stand der Dinge?

N.H.: Marota City ist jetzt wieder im Gespräch, vor allem, weil so viele Menschen durch die Zwangsräumungen ihre Eigentumsrechte verloren haben. Ich hoffe, dass diejenigen, die ihre Häuser verloren haben, nun entschädigt werden.

Wir wissen nicht genau, welche Pläne die neue Regierung für das Areal hat, aber ich habe das Gefühl, dass die Menschen um mich herum keine weitere Version von Marota City oder Solidere in Beirut wollen. Als Praktiker müssen wir also alles daransetzen, das zu verhindern.

Die Syrer wollen bezahlbaren Wohnraum, sie wollen, dass ihre alten Viertel wieder aufgebaut werden, vielleicht mit moderner Architektur, aber so, dass die Struktur ihrer Gemeinschaften erhalten bleibt.

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Sie haben von außerhalb an Syriens Wiederaufbau mitgewirkt und stehen nun in engem Austausch mit denen, die im Land geblieben sind. Wie erleben Sie diesen Meinungsaustausch?

E.H.: Wir versuchen, die Kluft zu schließen, die zwischen der Diaspora und denen besteht, die im letzten Jahrzehnt hier vor Ort unter dem Regime gelitten haben. 

Was den Wiederaufbau angeht, so konzentrieren sich die Rückkehrer eher auf Aspekte wie den Verfassungsprozess, während die in Syrien Gebliebenen den Fokus auf Grundversorgung, Strom und Lebensmittel legen. Es ist wichtig, diese Grundbedürfnisse so schnell wie möglich zu decken, aber nicht unbedingt, bevor man über den Wiederaufbau spricht – ich denke, beide Prozesse sollten parallel verlaufen.

Zumindest intern waren uns diese Unterschiede immer bewusst. 2020 haben wir das Young Syrian Urbanists Network (YSUN) gegründet. Wir haben junge syrische Architekten und Stadtplaner eingeladen – aus Syrien selbst, aber auch aus der Diaspora in Europa, Russland, Afrika und den USA. Eine zentrale Frage bleibt, wie Syrer in Syrien und Syrer in der Diaspora ihre Unterschiede überwinden können.

Bei unserer Veranstaltung haben wir bewusst Menschen und Organisationen aus Syrien und dem Ausland zusammengebracht – Experten aus allen Regionen. Die Botschaft war klar: Jeder hat eine Aufgabe.

N.H.: Die Vertreibung der Syrer innerhalb der letzten 14 Jahre hat eine neue Realität geschaffen, die sich aus unzähligen Geschichten zusammensetzt. Die Menschen bringen sehr unterschiedliche Erfahrungen und Bedürfnisse mit.

Bei unserer Veranstaltung ist uns besonders aufgefallen, wie viel Potenzial im Austausch aller Beteiligten liegt. Die unterschiedlichen Sichtweisen bereichern die Diskussion enorm. Ich bin überzeugt, dass die Erfahrungen, die das syrische Volk in den letzten 14 Jahren gemacht hat, künftig von großem Nutzen sein werden.

Hat die Erfahrung vor Ort Ihre persönliche Sicht auf den Wiederaufbau in Syrien verändert?

N.H.: Der direkte Kontakt mit den Menschen in Syrien hat unsere Sicht definitiv verändert. Das ist so wichtig und hat unsere Arbeit stärker in der Gesellschaft verankert.

E.H.: Ganz genau! Wir standen seit Jahren mit vielen Menschen in Syrien in Verbindung, konnten aber nur „diskret“ mit ihnen arbeiten. Oft haben sie falsche Namen benutzt, um ihre Identität zu verbergen; bei Videoanrufen haben sie ihre Kameras nicht eingeschaltet. Jetzt fürchten sie sich nicht mehr, mit uns in Verbindung gebracht zu werden. Wir können offen diskutieren, ohne rote Linien.

N.H.: Wir sprechen nicht nur mit anderen Architekten, sondern mit allen möglichen Leuten aus vielen Disziplinen, um den Wiederaufbauprozess voranzutreiben. 

Früher haben sich die Disziplinen in Syrien kaum ausgetauscht. Jetzt müssen wir alle an einen Tisch holen. Dieser Prozess hat vor zehn Jahren begonnen, als all diese Diaspora-Netzwerke entstanden sind. Und inzwischen findet er auch innerhalb Syriens statt.

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzt von Claudia Kotte.

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