Ein verdrängtes Kapitel des Algerienkriegs
Bis heute scheidet der Algerienkrieg, der am 18. März 1962 sein Ende fand, die Gemüter; sowohl in Frankreich als auch in Algerien. Algerien etwa diabolisiert noch immer die sogenannten "Harkis" – jene algerischen Muslime, die auf Seiten der Kolonialherren kämpften und von Frankreich nach der Unabhängigkeit Algeriens im Stich gelassen worden sind.
Frankreich wiederum – das 2012 den 50. Jahrestag des Friedensschlusses ohne offizielle Zeremonie beging – hat die in der Zeit des Algerienkrieges begangenen Gräuel bis zum heutigen Tag nicht wirklich aufgearbeitet: Massaker und Vertreibungen in Algerien, willkürliche Verhaftungen und staatliche Verbrechen im französischen Mutterland. Denn auch dort wurde gefoltert. Und es wurden all jene "pied-noirs" exekutiert, die sich im Kampf für die Unabhängigkeit auf die Seite der Algerier stellten und offen, auch mit militanten Aktionen, den FLN unterstützten.
Zu ihnen zählte auch Fernand Iveton. Am 11. Februar 1957 wird er im Alter von 29 Jahren in Algier durch die Guillotine getötet: November 1956 hatte er eine Bombe in der Gasstation von Hamma deponiert. Es ist das Jahr, in dem Michel Débris, General de Gaulles zukünftiger Premierminister, sagen wird: "Das Schicksal Frankreichs entscheidet sich in Algerien."
Zwei Jahre zuvor begann der offizielle und bewaffnete Aufstand der Algerier; nicht zuletzt Attentate wurden Alltag. Wenige Wochen vor Ivetons versuchtem Anschlag explodierte in einem damals beliebten Café in Algier, der Milch-Bar, eine Bombe und riss 30 Menschen, darunter auch Kinder, in den Tod. Wie die Franzosen schreckten auch die Mitglieder der FLN fortan vor keiner Gewalt mehr zurück, um die Ablösung Algeriens vom "Mutterland" zu erwirken.
Franzosen auf Seiten der Algerier? Verrat!
Iveton selbst lehnte jegliche Gewalt in diesem Kampf ab. Die Bombe, die er deponiert hatte, sollte seinerzeit nur Sachschaden anrichten, kein Menschenleben töten. Doch dazu kam es nie. Iveton wurde verraten – der französische Staat vollzog daraufhin an ihm ein Exempel: Franzosen auf Seiten der Algerier galten als Verräter.
Bis heute ist dieses Kapitel der französischen Geschichte nicht wirklich aufgeklärt; Publikationen über das Thema wurden zensiert. Wenn Joseph Andras nun in "Die Wunden unserer Brüder" Fernand Ivetons Geschichte erzählt und ihm noch einmal Stimme verleiht, so ist das mehr als eine späte Anerkennung: Es ist die Hommage an jene Gesinnung, für die Frankreich lange stand und die spätestens mit dem Algerienkrieg endgültig zu Grabe getragen wurde – die der Gleichheit und der Menschenrechte.
Erst Folter, dann ein Todesurteil
Der Roman, der eng entlang der historischen Fakten geschrieben ist, setzt ein an jenem Tag, an dem Iveton die Bombe in Hamma deponieren wird, und er endet mit Ivetons Tod durch die Guillotine. Minutiös und in schier unerträglichem Realismus schildert Andras die sich an Ivetons Verhaftung anschließende Folter: In jenem Krieg war den in feinsinnige Manieren verliebten Franzosen jedes Mittel recht.
Iveton selbst wird dennoch bis zum Schluss daran glauben, dass dieses Frankreich kein Land der Schlächter ist, sondern ein Staat, in dem das Recht noch immer seinen Platz hat. Kann man einen Menschen zum Tode verurteilen, der niemandem und nichts Schaden zugefügt hat? Ja, weil die allgemeine Stimmung seinerzeit extrem aufgeheizt war.
Geschickt rollt Andras zwischen den Zeilen anhand dieses Falles noch einmal auch die internen Debatten und Zwistigkeiten auf zwischen dem radikalen Flügel der FLN und jenen, die wie Iveton, als europäische Kommunisten dazu gestoßen waren: Für Iveton ging es – wie seinerzeit auch für Henry Maillot, der im Roman als engster Freund Ivetons figuriert, ebenfalls auf Seiten der Algerier kämpfte und dafür wie Iveton exekutiert worden ist – nicht um "Rassenkampf", sondern vor allem darum, Menschen vom Joch ihrer kolonialen Unterdrücker zu befreien. Menschenleben sollte dieser Kampf deshalb partout nicht kosten – die Frontführung des FLN sah das anders und hat sich damals nicht ausdrücklich zu Iveton bekannt.
Der Traum von einem freien und friedlichen Algerien
In Rückblenden dazwischen gesetzt ist wiederum die Liebesgeschichte, die sich zwischen Iveton und einer polnischen, dem Holocaust entkommenen Jüdin entspinnt. Sie zieht mit ihm nach Algerien – wo der Kampf, auch das ruft Andras noch einmal in Erinnerung, gegen die Franzosen auch von dem in Algerien ansässigen jüdischen Bevölkerungsteil unterstützt wird: Jene Frau etwa, die Iveton die Bombe überbringt, ist beispielsweise eine Jüdin. Iveton selbst wurde seinerzeit innerhalb von einem Tag der Prozess gemacht.
Im Roman gelten die letzten Worte aus seinem Mund einem freien Algerien – in dem Menschen aller Herkunft, aller Couleur und allen Glaubens eines Tages in Frieden und Gleichheit zusammen leben würden. Freiheit hat Algerien erlangt – ein Algerien, in dem ein friedliches und freies Miteinander möglich wäre, ist bis heute leider nicht in Sicht. Frankreich wiederum täte gut, sich endlich den Gespenstern der Vergangenheit zu stellen.
Dass "Die Wunden unserer Brüder" – ein so leidenschaftlicher wie kritischer Appell an den verloren gegangenen revolutionären, französischen Geist der "égalité" und "liberté" – dort zumindest den renommierten Prix Goncourt für den besten ersten Roman erhalten hat (den der Autor letztlich ausgeschlagen hat), ist immerhin ein kleines Zeichen der Hoffnung.
Claudia Kramatschek
© Qantara.de 2017
Joseph Andras: "Die Wunden unserer Brüder", Roman, übersetzt aus dem Französischen von Claudia Hamm, Hanser Verlag, 160 Seiten, ISBN 978-3-446-25641-5