Genug vom Lockdown oder genug von Netanyahu?
“Es ist keine Demonstration, aber trotzdem politisch. Wir sind junge Menschen, die Spaß haben wollen. Wir müssen wieder glückliche Gesichter sehen“, sagt Gaya Cohen, eine der Organisatoren von FIT TLV. Was als Marathon auf Rädern begann, ist mittlerweile ein kleines Festival, das trotz Verstoß gegen die Corona-Regelungen regelmäßig stattfindet. Ungefähr 1000 Menschen nahmen an der letzten Veranstaltung des Jahres 2020 im Dezember teil, die von DJs der Tel Aviver Partyszene musikalisch begleitet wurde. Unterbrochen vom nächsten Lockdown musste FIT TLV eine Pause einlegen. Am 12. Februar ging es dann wieder los.
Alles begann mit der Idee eines gemeinsamen Marathon während des zweiten landesweiten Lockdowns an Rosh Hashana, dem jüdischen Neujahrsfest. Ein weiteres Mal war das Leben in Tel Aviv angesichts steigender Covid-19 Fälle stillgelegt worden. Geschäfte, die den ersten Lockdown überlebt hatten, gingen pleite und soziale Kontakte wurden auf ein Minimum reduziert.
Da Einzelsportarten weiterhin erlaubt blieben, öffnete sich für viele Sonnenhungrige eine Hintertür. Junge Tel Aviver holten ihre verstaubten Surfbretter und Skateboards aus dem Keller und machten sich auf zum Strand. Sie radelten, skateten und dehnten sich, sobald die Polizei in Sicht war.
Sehnsucht nach sozialen Kontakten
“Die Leute dürsten danach, sich wieder zu begegnen, und im Sport besteht im Moment die einzige Möglichkeit“, erzählt Gaya bei einer Telefonkonferenz. Was als Marathon begann, wurde immer größer und wurde zunehmend zu einer Explosion bislang unterdrückter Gefühle.
Je mehr Menschen dazukamen, desto mehr verlangten sie nach sozialen Kontakten. Der Marathon, dessen eigentliche Idee es war, sich gemeinsam, aber individuell sportlich zu betätigen, überschritt schnell die Grenzen des Erlaubten. Der Marathon bewegte sich entlang einer Linie zwischen Verantwortungsbewussten und Verantwortungslosigkeit, zwischen moralisch korrektem und moralisch fragwürdigem Verhalten während einer Pandemie.
— Yuval Shtalrid (@yuvalion12) December 12, 2020
Gemischte Gefühle kommen in mir auf, als ich mir die Videos von FIT TLV auf Instagram anschaue. Da ist einerseits die Angst, etwas zu verpassen und gleichzeitig aber auch Besorgnis - vor der nächsten Welle, der nächsten mutierten Corona-Variante, dem nächsten Lockdown. Wer würde jetzt nicht gerne feiern? Wenn ich meinen Freunden in Deutschland die Videos zeige, reagieren viele besorgt und ziehen Parallelen zu den Querdenker-Demonstrationen in Deutschland.
Zwei Wochen nach dem Telefonat mit Aktivistin Gaya Cohen verhängt Israel im Dezember 2020 den dritten nationalen Lockdown. Das waren nur zwei Tage nach der letzten FIT TLV-Aktion des Jahres 2020, die landesweit Schlagzeilen machte: „Als ob es kein Corona gäbe: Unzählige nehmen an einer Party im Hayarkon Park in Tel Aviv teil“, titelte etwa das israelische Newsportal mako.
„Eigentlich ist es Aktion, die einfach demonstrieren will, dass wir die Gesichter von Menschen sehen müssen. Wir müssen Menschen lächeln sehen, wir müssen gemeinsam tanzen. Wir radeln für unsere Seele!“, sagt Gaya.
Die Aktionen von FIT kommen bei den Einwohnern von Tel Aviv gut an. Das Feedback ist überwiegend positiv und die Bewegung wird von Woche zu Woche stärker. Hunderte hatten Wochen zuvor bei Facebook ihre Teilnahme an der nächsten und ersten FIT 2021 am 12. Februar zugesagt; es wurden dann weitaus mehr.
Auf FIT’s Instagram-Seite sieht man lachende Gesichter, Menschen, die zu fröhlicher Musik tanzen, die radeln und schreien. Die Bilder zeigen blauen Himmel, Sonnenschein, junge Menschen in T-Shirts und Shorts. Jedes Mal, wenn der Marathon eine Pause einlegt, wird der Stopp zur Party, und wenn er endet, geht niemand nach Hause. Die wenigsten Teilnehmerinnen und Teilnehmer tragen eine Maske, obwohl eine Maske in Israel außerhalb der eigenen vier Wände Pflicht ist. Aber nach einem weit verbreiteten Gerücht, würde die Maskenpflicht nicht für den Outdoor-Sport gelten. Man sucht sich seine Hintertürchen.
Ein Land im Krisenmodus
Nach fast einem Jahr wollen junge Israelis endlich trotz Risiken wieder Gleichaltrige treffen. Die rebellische Atmosphäre ist typisch für das Land im ständigen Krisenmodus. Aber es liegt nicht nur an der lockeren israelischen Mentalität, dass Regeln und Lockdown weniger ernst genommen werden als zum Beispiel in Deutschland.
Es hat auch politische Gründe; die Ursachen für diese rebellische Haltung sind mit dem Kontext der Coronavirus- Krise in der israelischen Politik verbunden und deshalb ist auch FIT ein politisches Phänomen. Mehr als das: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von FIT repräsentieren die ungehörten Stimmen einer jungen Generation.
Seit dem Frühling letzten Jahres finden regelmäßig Anti-Regierungs-Proteste vor der Residenz von Premierminister Benjamin Netanyahu in der Balfour Straße in Jerusalem statt. Diese Demonstrationen sind von Woche zu Woche größer geworden. Als die Regierung versuchte, sie zu unterbinden, indem sie die Bewegungsfreiheit der Bürger während des zweiten Lockdown seit Mitte September 2020 auf einen Radius von 1000 Metern um ihr Zuhause begrenzte, führte das zu neuen Protesten Demonstrationen im ganzen Land.
Zunehmende Polizeigewalt, staatliche Überwachung und vier Wahlen innerhalb von zwei Jahren haben dafür gesorgt, dass Israelis das Vertrauen in ihre Institutionen zunehmend verlieren. Das spiegelt sich im Verhalten der Bürger in der Corona-Pandemie wider, hier herrscht Chaos, oder Balagan, wie man in Israel sagt.
Während in Deutschland Proteste gegen die Corona-Regeln der Regierenden von rechtsextremen Parteien wie der AfD und NPD unterstützt und die Teilnehmenden als Rechtsradikale, Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner eingestuft werden, ist es in Israel die liberale bzw. linke Opposition, die sich gegen ihre Regierung auflehnt.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von FIT gehören zu dieser Opposition: Sie sind säkular, jung und häufig Selbstständige, die von der Corona-Krise besonders hart getroffen wurden.
So wie Gaya. Vor COVID-19 arbeitete sie als selbstständige Fitness-Trainerin und als Kellnerin in einem Restaurant. Das Restaurant ist jetzt geschlossen und die meisten ihrer Gruppen haben das Fitness-Training eingestellt. „Die Geldsorgen stressen mich ununterbrochen, ich leide sehr darunter“, gesteht sie. Die finanzielle Unterstützung, die sie von der Regierung bekommt, kann ihre Lebenshaltungskosten in Tel Aviv, das an fünfter Stelle im Ranking der weltweit teuersten Städte steht, nicht decken.
„Letzten Endes wollen wir einfach nur, dass dieser Mist endlich vorbei ist. Wir wollen nichts mehr von Masken und Social Distancing hören“, bricht es aus Gaya heraus. Sie freut sich auf die nächste FIT und macht sich über eine mögliche Konfrontation mit der Polizei keine Sorgen. Was passiert, wenn die Polizei die Veranstaltung auflöst? Ihre Antwort: „Das werden sie tun. Zum Teufel mit der Polizei.“
Israelis haben eine „komplizierte“ Beziehung zur Polizei. Während der Pandemie haben Beschwerden über Polizeigewalt weiter zugenommen. Gaya kommentiert sarkastisch, „dass die Corona-Pandemie für Polizisten eine Glanzzeit ist, denn dann ist jeder ihr Feind“.
Im Juli 2020 wurde ein Israeli von Polizisten zusammengeschlagen und vier Tage lang inhaftiert, weil er keine Maske trug. Videos im Internet, die zeigen, wie Polizisten Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten anwenden, lautstark werden oder Wasserwerfer einsetzen, um Protestler zu zerstreuen, gehen viral. Ungereimtheiten beim Durchsetzen der Maskenpflicht haben zudem für Frustration und Konfrontationen mit der Polizei gesorgt.
So wird etwa die Maskenpflicht am Strand nicht durchgesetzt, während „die Polizei bei den Protesten in der Balfour-Straße denjenigen, die keine Maske tragen, Strafen auferlegt“, erzählt Gaya. „Ich trage ja drinnen meine Maske. Ich denke nur nicht, dass das draußen notwendig ist. Gib mir eine Anweisung, die ich nachvollziehen kann, an die ich glauben kann, und ich werde sie umsetzen.“
Netanyahu und die Ultraorthodoxen
Kritik gegenüber Polizei und Regierung hagelt es auch aufgrund der unterschiedlichen Behandlung von säkularen und ultraorthodoxen Israelis. Die Beziehung zwischen beiden Bevölkerungsgruppen ist zunehmend angespannt, denn viele säkulare Israelis haben kein Verständnis dafür, dass die Regierung die Corona-Regeln bei den Ultraorthodoxen trotz hoher Infektionszahlen nicht durchsetzt.
So ignorierten die ultraorthodoxen Jeshiva-Schulen die Anweisungen des Staates und führten einen normalen Betrieb, wie der Journalist Amos Harel in der Zeitung Haaretz schreibt, während das säkulare Schulsystem geschlossen bleibt. Harel ist nicht der Einzige, der behauptet, dass Premierminister Netanyahu es „sich nicht trauen würde, das Gesetz auch für Ultraorthodoxe durchzusetzen, denn ohne sie existiert er politisch nicht.“
Im September kündigten die Bürgermeister der von Ultraorthodoxen dominierten Städte Bnei Brak, Beitar Illit und Elad in einem Brief an Netanyahu an, dass „sie nicht mit der Regierung zusammenarbeiten werden, falls ihre Städte von einem Lockdown betroffen würden.“
Da Netanyahu aufgrund von Korruptionsvorwürfen und zahlreichen Gerichtsverfahren mit einem Bein im Gefängnis steht, ist er bei den anstehenden Wahlen im März auf die Unterstützung der ultraorthodoxen Parteien angewiesen. Nur mithilfe einer weiteren Amtszeit könnte er den laufenden Gerichtsverfahren weiterhin entgehen.
Der Umgang mit der Coronakrise und ihre politische Instrumentalisierung durch Netanjahu haben in großen Teilen der israelischen Gesellschaft Empörung hervorgerufen. In der Praxis bedeutete der Kampf gegen Corona für sie „Lockdown, persönliche Überwachung und eine umfassende Aufhebung individueller Freiheitsrechte“, schrieb Sigal Sadetsky, Leiterin der Einheit Public Health Services im Gesundheitsministerium, im Covid-19 Report (S. 15) der Organisation Physicians for Human Rights. Intransparenz bei Entscheidungsprozessen hätte das Misstrauen in die politische Elite zusätzlich verstärkt.
Da es der israelischen Regierung nach den letzten Wahlen nicht gelang, bis zum 20. April 2020 eine regierungsfähige Koalition zu bilden, hatte das Land de facto kein Parlament, als die Pandemie zuschlug. Vorschriften wurden mit der Begründung eines nationalen Notstandes hastig verhängt und wieder geändert.
Und dann gibt es noch den stark kritisierten „Major Coronavirus Law“ (Großes Coronavirus Gesetz), verabschiedet am 22. Juli 2020. Das Gesetz erlaubt es der Regierung, einen weiteren Corona-bezogenen nationalen Notstand auszurufen, unter dem neue Vorschriften ohne das Parlament bestimmt werden können.
Die Vereinigung für Bürgerrechte in Israel (ACRI), sowie das Juristische Zentrum für die Rechte Arabischer Minderheiten (Adala) haben beim Obersten Gericht eine Petition gegen das Coronavirus-Gesetz eingereicht. Sie begründen ihre Kritik damit, dass das Gesetz
„(…) die Grundrechte des Individuums massiv verletzt. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, in Notfällen den gewählten Abgeordneten kritische Entscheidungen zu verwehren, die transparent arbeiten. Schlimmer noch, die häufigen Änderungen der Gesundheitsvorschriften haben das Vertrauen in die Regierung, sowie in die Vorschriften selbst beschädigt und somit die Fähigkeit der Behörden, die Verbreitung des Virus einzudämmen, verringert.“
Das beschädigte Vertrauen in die Regierung und die Corona-Vorschriften gehören zu den Ursachen der Laissez-faire-Attitüde junger Israelis, die wie der Teilnehmerinnen und Teilnehmer von FIT, die Verteidigung ihrer Demokratie über die Angst vor dem Virus stellen.
Währenddessen erzielt Netanyahu internationale Rekorde mit seiner Impfkampagne. So will er pünktlich zur Wahl im März das Virus für besiegt erklären. Israel ist das erste Land, das mittlerweile mehr als 36 Prozent der Bevölkerung geimpft hat – mehr als 3,3 Millionen Israelis haben bereits die erste Dosis bekommen.
Gleichzeitig werden Palästinenser in Israels Covid-19-Politik vollkommen vernachlässigt. Haaretz erklärt Netanyahus Impfmarathon geradeheraus so: Angesichts der strafrechtlichen Anklagen und der Proteste gegen den Premierminister, sei es seine beste Chance der Strafverfolgung zu entgehen, wenn er im März wiedergewählt wird.
Zerstörung des Vertrauens in die Institutionen
„Wenn die Vorschriften der Regierung sinnvoll wären, würden wir sie vielleicht befolgen,“ sagt ein junger Israeli. „Aber weil alles hier politisch ist, finden die Menschen dann Ausreden, um doch raus zu gehen“. Misstrauen gegenüber den Behörden und wachsende Frustration angesichts der Pandemie und ihren Folgen führen dazu, dass junge Israelis das politische System – inklusive seiner Vorschriften – als einen Feind betrachten. Das führt auch dazu, dass Vorschriften bezüglich des Virus missachtet werden.
In einem Beitrag für Haaretz heißt es über den aktuellen Lockdown, es sei ohnehin nicht klar, „ob die Öffentlichkeit den Lockdown überhaupt befolgen wird. Die Regierung hat es bereits offiziell aufgegeben, Vorschriften in der ultraorthodoxen Gemeinschaft durchzusetzen.“
Gaya’s Standpunkt spiegelt eine grundsätzliche Lockdown-Müdigkeit, die unter Nicht-Risikogruppen verbreitet ist. Diese Müdigkeit und die damit einhergehende rebellische Atmosphäre mag jenen egoistisch erscheinen, die meinen, ein solches Verhalten würde zur Verschlechterung der Pandemiesituation beitragen.
Jedoch ist es wichtig, diese rebellische Haltung nicht von einem moralischen Standpunkt aus zu beurteilen, sondern ihren sozialen Kontext sowie die politische Situation miteinzubeziehen. Die Pandemie hat Menschen in Links und Rechts, Verschwörungstheoretiker und Realisten, Gehorsame und Ungehorsame gespaltet (und vielleicht waren wir alle schon mal auf beiden Seiten).
Die Marginalisierung einer Generation
Obwohl Gaya sagt, dass FIT keine politische Agenda hat, ist die Bewegung offensichtlich doch politisch. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind die Stimme einer Generation, die sich angesichts politischer Instrumentalisierung der Coronavirus-Krise und durch den steigenden finanziellen Druck von ihrer Regierung vernachlässigt und marginalisiert fühlt.
Die Teilnehmer von FIT TLV sind daher viel mehr als eine Spaß-hungrige Meute, die sich nicht für Corona interessiert. Sie bilden ein Segment der israelischen Gesellschaft, das sich nicht von ihrer Regierung repräsentiert fühlt. Die junge, säkulare Erwerbsbevölkerung stellt Israels wirtschaftliches Rückgrat, doch im Gegensatz zu den Ultraorthodoxen, die in der Regel keiner beruflichen Tätigkeit nachgehen, haben sie Netanyahu nicht gewählt und fühlen sich nicht von ihm vertreten.
In Anbetracht des soziopolitischen Kontexts der zurzeit stattfindenden Proteste – sei es FIT, die Anti-Regierungs-Demonstrationen in Jerusalem oder die Proteste der Ladenbesitzer mit ihrer Parole „Bibi du hast uns im Stich gelassen“ – greifen politische Kategorien wie Rechts und Links zu kurz, denn sie müssen an verschiedenen Orten nicht unbedingt dasselbe bedeuten.
Wir erleben heute einen Moment der Spaltung in der Gesellschaft. Entweder verurteilen wir einander, oder wir können diejenigen, die sich ausgeschlossen fühlen, zu Wort kommen lassen. Dann können wir eine Konversation mit ihnen führen, um beschädigtes Vertrauen wieder aufzubauen und der Spaltung in einer Zeit, in der wir zwangsläufig gemeinsam handeln müssen, entgegenwirken.
Djamilia Prange de Oliveira
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