Fenster zur modernen iranischen Dichtung
Lyrik aus dem Original in eine andere Sprache zu übertragen ist nie ein leichtes Unterfangen. Bei der bildreichen persischen Poesie, die aus ihrem über Tausend Jahre gewachsenen Sprach- und Metaphernschatz schöpft, ist die Herausforderung besonders beträchtlich.
Wenn auch diese Gedichte erst im letzten Jahrhundert entstanden sind; wie lassen sich in der iranischen Kultur verankerte Empfindlichkeiten, wie Anspielungen auf die großen persischen Literaturklassiker übersetzen? Geht das überhaupt ohne Fußnoten? Was macht man mit antiquierten Wörtern und kühnen Satzstellungen?
Verspielte Vieldeutigkeit der Weinmetapher
Kurt Scharf, Kulturvermittler und Literaturübersetzer, hat sich in "Halt aus in der Nacht bis zum Wein" an die Gedichte von 32 zeitgenössischen iranischen Lyrikern gemacht. Der Titel für die Anthologie stammt aus einem Vers des Schiraser Poeten Mansur Oudschi und spielt auf die verspielte Vieldeutigkeit der Weinmetapher in der persischen Dichtung an. Wein kann im Persischen irdisch, also als berauschender Traubenwein, aber auch als Symbol für die Liebe oder gar für mystische Verzückung verstanden werden.
Scharf machte sich seit den Neunzigern einen Namen als einer der wenigen deutschen Übersetzer aus dem Persischen, zuletzt von mehreren Romanen des iranischen Schriftstellers Amir Hassan Cheheltan. Zudem übertrug Scharf Literatur aus den lateinamerikanischen Varianten des Spanischen und Portugiesischen ins Deutsche. Jedoch im Vergleich zur Arbeit an den persischen Versen sagt er: "Im Augenblick sitze ich an der Übersetzung eines brasilianischen Romans und finde das eine sehr erholsame Tätigkeit."
Die Dichter in dem Band, der im Bremer Sujet-Verlag erschienen ist, stammen aus der vorrevolutionären Generation und hatten den Höhepunkt ihres Schaffens in den zwei Pahlawi-Äras. Einige von ihnen sind bereits verstorben, manche leben weiter in der Islamischen Republik, während andere sich seit Jahren im Exil befinden.
Das Buch widmet sich einer Strömung in der persischen Dichtung, die im Westen anders als die großen Klassiker Hafis oder Rumi wenig bekannt ist. Zum Hintergrund: Das 20. Jahrhundert war für die persische Lyrik ein Zeitalter von Innovation und literarischen Umbrüchen. Pioniere wie Nima Yuschidsch (1897-1960) reformierten die Gedichtsprache und statteten ihre Verse mit neuartigen Metaphern aus.
Ausbruch aus dem Korsett der klassischen Dichtung
Vor allem jedoch war die she'r-e nou-Bewegung mit Yuschidsch als Gallionsfigur — die "neue Dichtung" — ein Ausbruch aus dem Korsett der klassischen Schemata von Reim und Metrum, die von der jahrhundertelangen klassischen Dichttradition vorgeschrieben wurden. In dieser freieren Dichtung, die sich rasch durchsetzte, konnten innerhalb eines einzigen Gedichts Versmaß und Zeilenlänge variieren. Auch mit der Grammatik nahm man es nicht mehr so ernst. Vorherrschende Themen waren nun nicht mehr nur Mystik oder Liebesdichtung, sondern oft die politische oder gesellschaftliche Kritik.
Selbst wenn Übersetzungen einzelner Dichter bereits im Deutschen vorliegen, macht Scharf der deutschen Leserschaft in seiner Anthologie erstmals auch die Werke wenig bekannterer Poeten zugänglich. Dies allein ist schon ein Verdienst, dank dem uns die facettenreiche iranische Lyrik näher gebracht wird.
Scharf bemüht sich, bei seinen Übersetzungen so nah wie möglich am Original zu bleiben. Er schöpft dabei die sprachlichen Freiheiten der Dichtung aus. Tatsächlich lässt sich in den Versen der Stil des jeweiligen Dichters wiedererkennen — von der einfachen, meditativen Sprache eines Sohrab Sepehri bis zur kühnen, für damalige Zeiten skandalösen Intensität der Dichterin und Emanzipationsvorreiterin Forough Farokhzad.
Wer sich auf die Gedankenwelten und stilistischen Eigenarten der Poeten einlässt, die auch das Deutsche transportiert, den wird es nicht stören, dass die Sprache in der Übersetzung manchmal weniger poetisch, mitunter auch umständlich erscheint. Bei vielen Gedichten jedoch konnte Scharf Reime beibehalten und damit etwas von der Sprachschönheit des persischen Originals übertragen. Etwa in diesem melancholischen roba'i, oder Vierzeiler, der charakteristisch ist für das Werk des Poeten Mehdi Akhawan Sales: Es kam der Tod und fragte nach der lieben Seele mein. / Er forderte, was sie gewann und was ihr fehlte, ein. / Ich lebte einst den Freuden und gab alles für sie hin; / Und er zog nur den Leib, nur eine leere Hülle ein.
Stimme des Übersetzers kommt hervor
Zweifellos merkt der aufmerksame Leser, wie gewissenhaft Scharf bei der Übertragung nach treffenden Ausdrücken gesucht hat — ein endloser Balanceakt, in dem letztlich auch die Stimme des Übersetzers zum Vorschein kommt. Gleichwohl wird der Leser in dem Buch mitgenommen von der Begeisterung des Übersetzers für das Erbe der persischen Dichtung. "Schon Goethe, der die Stunde der Weltliteratur bereits vor etwa 200 Jahren für gekommen erklärte, räumte der persischen Lyrik innerhalb dieser einen Ehrenplatz ein", sagt Kurt Scharf.
Seit 1969 arbeitete Scharf in Goethe-Instituten zwischen Lateinamerika, Europa und Westasien. In den Jahren 1973-79 war Scharf stellvertretender Leiter des Instituts in Teheran, dann bis Mitte der Achtziger in Brasilien, gefolgt von einigen Jahren in Berlin, wo er den Bereich "Literatur, Gesellschaft, Wissenschaft" im Haus der Kulturen der Welt leitete. Von 1994-99 führte Scharf das Goethe-Institut in Istanbul, anschließend bis 2005 jenes in Lissabon.
Im Nachwort des Gedichtbands gibt Scharf dem Leser einen aufschlussreichen Eindruck in das historische Klima, welches er in Teheran zum Ende der siebziger Jahre erlebte. Damals lernte Scharf persönlich einige der iranischen Lyriker in seinem Buch kennen.
An "Zehn Abenden" im Oktober 1977 richtete der unter dem letzten Schah verbotene iranische Schriftstellerverband gemeinsam mit dem Goethe-Institut Teheran die größte öffentliche Literaturveranstaltung der iranischen Geschichte aus. Für die 66 teilnehmenden Dichter und Schriftsteller wurden diese Abende zu einem Forum, um gegen die Beschränkungen der Freiheit unter dem Pahlawi-Regime zu demonstrieren.
“Die Dichter waren in der Zeit vor der Flucht des letzten Schahs die Maitres-Penseurs Irans, sie bestimmten das geistige Klima des Landes; und der künstlerische Wille der Iraner konzentrierte sich in einer für uns kaum vorstellbaren Weise in der Dichtung. Das zu erleben war für mich eine prägende Erfahrung”, sagt Scharf rückblickend. Mit der vorliegenden Anthologie vermittelt er uns nun einen Eindruck für die außergewöhnliche Rolle der persischen Poesie als Sammelbecken verschiedener Denkströmungen und damit für die außergewöhnliche Beziehung, welche die Iraner bis heute zu ihrer Dichtung pflegen.
Marian Brehmer
© Qantara.de 2020
Kurt Scharf: "Halt aus in der Nacht bis zum Wein", Gedicht-Anthologie, Sujet-Verlag, 2019, 331 Seiten, ISBN 978-3-96202-044-6