Ein muslimisch-christlicher Meilenstein
Ich bin als ein muslimisches Einwandererkind in der schönen Stadt Mainz aufgewachsen. Umgeben von einer reichen katholischen Kultur belastete es mich oft, als „anders“ angesehen zu werden. Aus erster Hand erlebte ich sowohl die Bereicherung als auch die Spannung eines Lebens zwischen den religiösen Welten.
Zu Hause rezitierte ich den Koran und in der Schule sang ich Weihnachtslieder. Während des Ramadans fastete ich, während meine Klassenkameraden Adventskalender öffneten.
Doch schon als Kind erkannte ich, dass unsere Glaubensrichtungen nicht so weit voneinander entfernt waren, wie sie oft dargestellt wurden. Ich wurde dazu erzogen, Jesus nicht nur als Propheten zu verehren, sondern auch als eine der beliebtesten Figuren im Islam. Ich kannte auch Maria, die im Koran mehr verehrt wird als jede andere Frau.
Heute, da fast jede zweite muslimische Frau in Europa aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen Diskriminierung erfährt, denke ich über die anhaltende Notwendigkeit christlich-muslimischer Zusammenarbeit nach.
In „Nostra Aetate“, dem bahnbrechenden Dokument der katholischen Kirche über ihr Verhältnis zu anderen Religionen, das Papst Paul VI. am 28. Oktober 1965 im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) verkündete, fand ich eine Vision, die zu meiner Erfahrung passte. Das Dokument ist eine Einladung an Muslime und Christen, ihre Angst zu überwinden und sich gegenseitigem Respekt, gemeinsamen Werten und einer gerechteren Zukunft zuzuwenden.
Der muslimische Jesus
Auch Muslim*innen lieben Jesus. Das heißt aber nicht, dass alles gleich ist im Islam und Christentum. Unsere Autorin verfolgt einen koranischen Ansatz, um mit religiösen Unterschieden umzugehen: Gemeinsames betonen, Unterschiede anerkennen.
Ursprünglich war „Nostra Aetate“ als Text konzipiert, der sich mit der Beziehung zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum nach dem Holocaust befasste. Im Laufe des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde er jedoch auf andere große Religionen ausgeweitet, und im endgültigen Text ist einer der fünf Abschnitte speziell dem Islam gewidmet.
Was „Nostra Aetate“ so revolutionär machte, war die entscheidende Abkehr von Jahrhunderten theologischer Polemik und Feindseligkeit hin zu einer Haltung der Offenheit und des Respekts. Zum ersten Mal erkannte die Kirche formell die spirituellen und moralischen Wahrheiten anderer Religionen an, einschließlich des Islam.
Es wurde bekräftigt, dass Muslime „den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde“. Die Anerkennung der theologischen Verwandtschaft, verbunden mit einem Aufruf zu Dialog und Zusammenarbeit, markierte einen historischen Abschied von einer Vergangenheit, die allzu oft von Konflikten geprägt war.
Muslime sind offen für den Dialog
Es war der Geist dieses Dokuments, der es mir als Muslimin ermöglichte, an der katholischen Georgetown University zu studieren und dort als muslimische Gast-Kaplanin zu arbeiten. Ich begleitete Studierende aller Glaubensrichtungen und auch solche ohne Glauben und lernte, wie transformativ echte christlich-muslimische Beziehungen sein können.
„Nostra Aetate“ bietet Hoffnung, löscht dabei aber nicht die schmerzhaften Momente unserer gemeinsamen Geschichte aus – und das sollte es auch nicht. Muslime und Christen dürfen die Vergangenheit nicht vergessen, sollten sich aber auch nicht von ihr gefangen nehmen lassen. Der einzige Weg nach vorn ist gemeinsam, verbunden in Echtheit und gegenseitigem Respekt.
Während diese Vision einen Wandel in der Geschichte der katholischen Kirche einleitete, unternahmen auch Muslime Schritte, um ihre Beziehungen zu anderen Gemeinschaften zu vertiefen. So schrieb der muslimische Gelehrte Bediüzzaman Said Nursi bereits 1950 einen Brief an Papst Pius XII., in dem er seine Hoffnung auf Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen angesichts wachsender Feindseligkeit, weit verbreiteter Armut und moralischen Verfalls zum Ausdruck brachte.
1953 besuchte Nursi den orthodoxen Patriarchen Athenagoras in Istanbul und bat darum, angesichts der Herausforderungen der modernen Zeit zusammenzuarbeiten. Nursis Vision, die auf dem Vorbild und den universellen Lehren des Propheten Mohammed basierte, wirkt bis heute nach: Zusammenarbeit auf Grundlage des Glaubens, nicht ihm zu trotz.
Dieser Geist setzt sich im 21. Jahrhundert fort. 2007 unterzeichneten 138 muslimische Gelehrte und Führer „Ein gemeinsames Wort zwischen uns und euch“, einen bahnbrechenden offenen Brief an christliche Führer, in dem sie auf Basis der gemeinsamen Gebote zu Gottes- und Nächstenliebe aufriefen, zu Frieden und gegenseitigem Verständnis.
2019 unterzeichneten Papst Franziskus und der ägyptische Groß-Imam Ahmed al-Tayeb das „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen“ (Fratelli Tutti) – ein weiterer Meilenstein der interreligiösen Zusammenarbeit. Diese Initiativen zeigen, dass Muslime nicht nur offen sind für Dialog, sondern ihn auch aktiv führen.
Gesten sind wichtig
Persönlich hat es mich tief bewegt, dass Papst Johannes Paul II. bei seinem apostolischen Besuch in meiner Heimatstadt Mainz im Jahr 1980 direkt zu den muslimischen Einwanderern – meiner Gemeinde – sprach und unsere Anwesenheit, unseren Glauben und unsere Würde anerkannte:
„Aber nicht alle Gäste in diesem Land sind Christen; eine besonders große Gruppe bekennt sich zum Glauben des Islam. Auch euch gilt mein herzlicher Segensgruß!
Wenn ihr mit aufrichtigen Herzen euren Gottesglauben aus eurer Heimat hierher in ein fremdes Land getragen habt und hier zu Gott als eurem Schöpfer und Herrn betet, dann gehört auch ihr zu der großen Pilgerschar von Menschen, die seit Abraham immer wieder aufgebrochen sind, um den wahren Gott zu suchen und zu finden.
Wenn ihr euch auch in der Öffentlichkeit nicht scheut, zu beten, gebt ihr uns Christen dadurch ein Beispiel, das Hochachtung verdient. Lebt euren Glauben auch in der Fremde und lasst ihn euch von keinem menschlichen oder politischen Interesse missbrauchen!“
Gesten wie diese sind in einem Klima zunehmender Entmenschlichung und Dämonisierung muslimischer Einwanderer und Flüchtlinge von Bedeutung. Die Botschaft von „Nostra Aetate“ ist nicht nur für Geistliche und Theologen, sondern auch für die breite Öffentlichkeit weiter relevant und hilft der nächsten Generation, die Komplexität unserer Geschichte und das Versprechen einer gemeinsamen Zukunft zu verstehen.
Wir leben in einer polarisierten Welt, doch dieses Dokument erinnert uns daran, dass die Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen nicht naiv, sondern notwendig ist. Es zeigt, dass wir in den Schriften und Herzen der anderen die Grundlagen für respektvolle Beziehungen, Gerechtigkeit und Frieden finden können.
Dieser Text ist eine Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung: Clara Taxis.
© Qantara.de