Familiengeheimnisse am Nil
Wenn arabische Autorinnen und Autoren derzeit nach Deutschland kommen, werden sie vor allem als Zeugen des Geschehens in ihren Ländern wahrgenommen. Interviews und Lesungen führen sehr schnell fort von der Literatur und hin zu Berichten und Meinungsaustausch über die Umwälzungen im arabischen Raum.
Die 1976 geborene Ägypterin Mansoura ez-Eldin ist wohl eine der jüngsten dieser Vertreterinnen der arabischen Literatur und steht während ihrer Lesereisen nach Frankfurt, Wien, Innsbruck oder Basel immer wieder Rede und Antwort zur Revolution in ihrem Land. Tatsächlich ist sie vor Ort sehr aktiv daran beteiligt, berichtet für internationale Zeitungen wie der New York Times oder der Neuen Zürcher Zeitung darüber und stellt nach eigenem Bekunden ihr literarisches Schaffen gerade für die Sache der Revolution zurück.
Politisierte Literaturrezeption
Mansoura ez-Eldin gilt schon länger als eine der viel versprechenden jungen Stimmen des literarischen Ägyptens. Sie wurde 2010 auf dem Hay Literaturfestival in Beirut unter die 39 wichtigsten jungen Autoren der arabischen Sprache gewählt und war 2009 mit ihrem zweiten Roman für den arabischen Booker Prize (International Prize for Arabic Fiction) nominiert.
Dieser Roman mit dem Titel "Hinter dem Paradies" liegt nun auch übersetzt im Züricher Unionsverlag vor und ist das erste Buch der Autorin, das auf Deutsch erscheint. Seine Veröffentlichung ist unerwartet in diese Zeit gefallen, die den Blick auf die arabische Literatur stark verändert, ihn hoffentlich schärft – aber auf jeden Fall den Blick politisiert.
"Hinter dem Paradies" erzählt die Geschichte einer Jugend, einer Familie und einer Landschaft: "Sollte eines Tages jemand zufällig auf jenem abgelegenen Flecken mitten im Delta den Nil entlanggehen, werden ihm die Reste eines Orangen- und Dattelpalmenhains auffallen, der sich einmal über etwa fünf Feddan direkt am Ufer erstreckte, bevor auf zwei davon eine neue Tonziegelfabrik entstand, die mit ihrem Lärm die ganze Umgebung überzieht, und wenn er genau hinschaut, wird er ein hübsches weißes Haus sehen, daneben drei Taubentürme in genau der gleichen Farbe. Das ist das Haus, das Raschid baute, als er sich wünschte, selbstständig und außerhalb des großen Familienhauses zu leben …"
Raschid ist der Vater der Heldin Salma, die ein Jahr nach seinem Tod in ihren Heimatort im Nildelta zurückkehrt und sich wie in Tagträumen an ihre Kindheit und Jugend zurückerinnert sowie an das, was man ihr erzählt hat, und das, was nie erzählt werden sollte, sie aber doch erfahren hat.
Zudem versucht sie einen Roman über ihre Familie zu schreiben, was zu einem weiteren Vexierspiel innerhalb dieses Buches führt: Die lückenhafte Erinnerung der Heldin wird von ihr fiktiv ergänzt und hinterfragt. So entsteht ein vielgestaltiges und kunstvolles Panorama des ländlichen Ägyptens und der Geschichte seiner Industrialisierung, ein farbiges Panorama, das vor allem auch die unterschiedlichsten Frauenfiguren in dieser Welt schlaglichtartig aufleuchten läßt.
Angefangen von der starken Großmutter, die erfolgreich die Geschäfte führt und ihren Mann als eine den Herrn des Hauses markierende Marionette vor sich herführt, weiter über die geistig zurückgebliebene Badr oder den regelmäßigen Feriengast Margot, die aus Kairo den Geruch von Dekadenz und weiter Welt mitbringt, bis hin zur Schwester der Heldin, die sich zu einer überzeugten Spießerin entwickelt. Die Person, in der sich Salma aber am meisten spiegelt, ist Gamila, die Stieftochter ihres Onkels und ihre ehemalige beste Freundin.
Psychogramm einer jungen Literaturredakteurin aus Kairo
"Hinter dem Paradies" ist also Familienroman und Psychogramm einer jungen Literaturredakteurin aus Kairo, wie auch Mansoura ez-Eldin eine ist. Wird das in Zeiten der Revolution gebraucht? Soll man es lesen? Die Antwort ist ein eindeutiges Ja! Gerade den westlichen Leser führt Mansoura ez-Eldins Roman tiefer in ägyptische Zustände hinein, als es Zeitungsartikel vermögen.
Sie erzählt sanft sezierend, das heißt allen Figuren gegenüber menschlich und warmherzig, aber doch mit konsequenter Ehrlichkeit. Und diese sanfte Kühle der psychologischen Einfühlung macht die Kraft und Bedeutung des Romans aus, der das explosive gesellschaftliche Nebeneinander Ägyptens geschickt auf so kurzer Strecke zusammenfasst.
Ländlicher Aberglaube über Opfergaben und Geister oder Salmas Lieblingstante Nasla, die sich bei ihrer Verheiratung so verkrampft, dass sie Jungfrau bleibt und schnell wieder geschieden wird, scheinen Motive des 19. Jahrhunderts zu sein, und sie treffen auf eine wohlhabende Jugend, die Michael Jackson hört, Freundschaften in den Westen pflegt und Marquez und Freud liest.
Literarisches Beispiel für Toleranz
Das viktorianisch verkrampfte Verhältnis zum Körperlichen durchzieht als Thema dieses Buch ebenso stark und führte wegen der offenen Erzählweise bei seinem Erscheinen zu scharfer Kritik. Diese Kritik ist aber genau Teil dessen, was beschrieben wird: Eine Angstreflex, der im Buch zum düstersten Geheimnis der Familie um eine ungewollt schwanger gewordene Tante führt, die Selbstmord begangen hat. Auch das ist ein Motiv des westlichen 19. Jahrhunderts, das aber hier in den 70er Jahren des Zwanzigsten in Ägypten angesiedelt ist.
"Hinter dem Paradies" ist zur rechten Zeit erschienen. Hier ist eine junge Stimme zu hören, die vieles von dem, was in Ägypten gerade passiert, am Beispiel eines privaten Geschehens psychologisch entschleiert.
Zudem ist er in seiner Neutralität allen Figuren gegenüber sozusagen ein literarisches Beispiel für demokratische Toleranz. Aber es ist ein kleiner Roman, und wenn die Zeiten es wieder erlauben werden, kann man sich gerade von dieser Autorin ein noch breiteres Gesellschaftsbild von großer Tiefe erhoffen.
Axel von Ernst
© Qantara.de 2012
Axel von Ernst, geboren 1971, ist freier Autor und Mitverleger des Lilienfeld Verlages. Er lebt und arbeitet in Düsseldorf.
Mansura Eseddin: Hinter dem Paradies. Roman. Unionsverlag, Zürich 2011. Gebunden, 189 Seiten
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de