Wo Fake-News sich verbreiten, geht der Traum vom Fortschritt in die Brüche
Haben Journalist*innen die Freiheit zu schreiben, was ihnen in den Sinn kommt, solange es nicht gegen die Gesetze verstößt?
Können Schriftsteller*innen dem vollen Spektrum an – aus ihrer Sicht fortschrittstauglichen – Ideen freien Ausdruck verleihen?
Können sie sich auf Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte berufen? Dem zufolge hat „jeder das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“
Pressefreiheit als Illusion
Beim Lesen dieser Fragen werden manche als erstes an Repressionsmechanismen auf politischer, strafrechtlicher oder auch verfassungsrechtlicher Ebene denken, die dazu angetan sind, jedwedem freien Denken Ketten aufzuerlegen. Hier soll aber der Fokus auf der gesellschaftlichen Repression in der arabischen Welt liegen.
Diesbezüglich lassen sich die oben gestellten Fragen ganz schlicht und entschieden beantworten: Nein, wem es in den arabischen Gesellschaften ernst ist mit dem Schreiben, kommt dort nicht in den Genuss einer solchen Freiheit.
Zwar spielen sich die Menschen dort im Allgemeinen gerne als die großen Freiheitsverteidiger*innen auf. Mir scheint jedoch, dass die Mehrheit der Araber*innen die Existenz von politischen Instrumenten zur Zensur des künstlerischen und literarischen Schaffens mit Zähnen und Klauen verteidigt.
Hier stellt sich die Frage: Wie konnte es soweit kommen, dass Menschen ohne politische Ämter zu einem Werkzeug der gesellschaftlichen Repression geworden sind? Über welches Unterdrückungsarsenal verfügen sie? Wer hat sie dazu trainiert, Repression auszuüben? Welche Gedanken bilden den ideologischen Rahmen für die Ausübung der Repression?
Der Konservatismus arabischer Gesellschaften und die Tugendwächter-Mentalität
Allgemein gesprochen sind die arabischen Gesellschaften in etwa zur Hälfte stockkonservativ. Es sind also Gesellschaften, die auf das Bewahren der traditionellen gesellschaftlichen Institutionen ausgerichtet sind, die auf Stabilität setzen, die pyramidenförmige Hierarchien statt Gleichheit befürworten, die jedwede Innovation argwöhnisch beäugen und die dem Konzept der herrschenden „Ordnung“ (arab. nizam) oberste Priorität einräumen. Damit tragen sie dazu bei, dass Vermögen und soziale Stellung stets in denselben Händen bleiben.
So finden wir beispielsweise in der ägyptischen Verfassung einen Artikel, der folgendes besagt: „Die Familie ist das Fundament der Gesellschaft. Ihre Grundlagen sind die Religion, die Moral und der Patriotismus. Das Bestreben des Staates gilt ihrem Zusammenhalt, ihrer Stabilität und der Verankerung ihrer Werte.“ In diesem Artikel werden die Wertvorstellungen der konservativen Gesellschaft, die auf den Fortbestand der traditionellen Werte ausgerichtet ist, glasklar benannt.
Diese Gesellschaften fördern es geradezu, dass ihre Mitglieder sich in die Angelegenheiten anderer Individuen einmischen und deren Verhalten moralisch beurteilen. In den meisten Fällen sind es die Ungebildetsten und Rückständigsten, die am hemmungslosesten ihre Nase in das Leben ihrer Mitmenschen stecken.
Einige sehen den Grund für das dreiste Verhalten dieser Personen darin, dass sie die im Islam überlieferte Doktrin von der „Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasterhaften“ so verstehen, wie sie sich im folgenden Hadith manifestiert: „Wer von euch etwas Lasterhaftes sieht, der soll es mit eigener Hand verändern, und wenn er das nicht vermag, dann mit den Worten seiner Zunge, und wenn er auch das nicht vermag, dann mit dem Wunsch seines Herzens. Dies ist die schwächste Form des Glaubens.“
Leider hinterfragen die sich einmischenden Personen meist nicht, weshalb ausregerechnet sie dazu qualifiziert sein sollten, Lasterhaftigkeit zu definieren.
Die gesellschaftliche Identität ist nichts Feststehendes
Letztendlich führen die Mitglieder von konservativen Gesellschaften unentwegt das Wort „Identität“ im Munde. Sie setzen voraus, dass diese gesellschaftliche Identität eine feststehende, unabänderliche Identität ist. Diese anzutasten bedeutet für sie den Untergang des Schiffes, ein Zerbersten des sozialen Gefüges, einen Verfall der Werte.
Mit dem Erstarken islamistischer Strömungen ab den späten 1970er Jahren beschränkte sich die Sache nicht mehr nur auf die Einmischung des allgegenwärtigen Portiers in den Lebenswandel dieses und jenes Bewohners von Etage X. Nun begannen ganze Heerscharen von Rechtsanwälten, die jenen Strömungen nahe standen, Anklage gegen all jene zu erheben, die etwas schrieben, was ihresgleichen gegen den Strich ging.
In den 1990er Jahren übernahmen diese Funktion dann zunehmend Cyber-Schwadrone, die sich das Internet zunutze machten, um den User*innen repressive Attitüden gegen jedwede neuartigen Ideen anzutrainieren und zum Angriff auf Freiheitsliebe und Kreativität zu blasen. Es war die Zeit, in der die Printmedien damit begannen, Online-Angebote mit Kommentarfunktion zu etablieren.
Die Rolle solcher Auftragstrolle bestand darin, jede Meinungsäußerung ausfindig zu machen, die ihren Überzeugungen zuwiderlief, und dann auf deren Autor*in einen Schwall dutzender, manchmal sogar hunderter Kommentare einprasseln zu lassen.
Bei den meisten davon handelte es sich um frei erfundene Anschuldigungen und bizarre Lügengebilde über das Privatleben der Autor*innen. Mal wurde der Vater der betreffenden Person der Verübung von Kriegsverbrechen bezichtigt, mal war deren Mutter eine die gesellschaftlichen Werte bedrohende Freudenhaus-Tänzerin. Keine Lüge war zu krude oder unwahrscheinlich, um nicht ins Spiel gebracht zu werden. Hauptsache, der Ruf derjenigen Personen, die es wagte, einen Text aus einem innovativen Blickwinkel zu schreiben, wurde in den Schmutz gezogen.
„Das Beschneiden der Meinungsfreiheit korrespondiert mit dem Beschneiden der Gedankenfreiheit“
In einem Artikel mit dem Titel „Islam, Freiheit, Kreativität – freier Zugang zu Rechten ja, aber kein Freibrief für Ausschweifungen“ schreibt der islamische Rechtsgelehrte Yusuf al-Qaradawi zum Thema Freiheit der Rede und der Kritik: „Der Islam gesteht die Freiheit der Rede und der Kritik zu, ja er hat sie zu etwas transformiert, was über die Freiheit hinausgeht. Denn er hat die Rede und die Kritik – wenn es zum Wohle der Umma (also der Gemeinschaft der Muslime), zum Wohle der Moral ist – zu einer Verpflichtung erhoben.“
Wie bereits dem Titel des Artikels zu entnehmen ist, gibt es eine Freiheit, die zu Ausschweifungen führt. Eine solche wird als verwerflich angesehen. Kritik ist an die Bedingung gebunden, dass sie zum Wohle der Umma erfolgen muss. Wie lässt sich dieses Wohl definieren? Und was ist unter Umma genau zu verstehen? Und warum Umma und nicht Staat? All das sind inhaltsleere Schlagworte.
Nach dem Muster solcher Artikel sind zehntausende, wenn nicht hunderttausende von Online-Kommentaren gestrickt. So bin ich auch heute wieder unter einem Artikel, der sich auf neues Terrain vorwagt, auf folgende Fragen und Kommentare gestoßen, verfasst von ganz normalen Menschen ohne Verbindung zum politischen Betrieb:
Sind Sie Fachmann für das Thema?
Sie scheinen offensichtlich jemand mit hohem Geltungsdrang zu sein.
Handeln Sie im Auftrag ausländischer Geldgeber?
Verachten Sie den Islam?
Sie stellen die tief verwurzelten Werte der Gesellschaft in Frage.
Was Sie schreiben, ist eine Bedrohung für die nationale Sicherheit.
Haben Sie konkrete Alternativen anzubieten, oder kritisieren Sie einfach nur um des Kritisierens willen?
Haben Sie praktische Lösungen, die sich umsetzen lassen?
Was sind Ihre Quellen?
Sind Sie Rassist?
Sind Sie Atheist?
Viele bedienen sich des Terminus „Agenda“, der in den letzten zehn Jahren zu einem Modebegriff geworden ist. So liest man etwa: Sie verfolgen eine ausländische Agenda. Oder: Was ist Ihre Agenda?
Wir haben es hier mit einem vorgefertigten Arsenal an Sätzen und Fragen zu tun, deren Hauptfunktion darin besteht, der Phantasie all jener, die schreiben, Zügel anzulegen und sie daran zu hindern, neue Ideen zu veröffentlichen.
In einer Zeit der Ineffizienz arbeitet die gesellschaftliche Maschinerie zur Knebelung der Phantasie auf höchst effiziente Weise. Und gemahnt mich an die Aussage Kants, wonach das Beschneiden der Meinungsfreiheit mit dem Beschneiden der Gedankenfreiheit korrespondiert.
Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der misslichen Lage, in der sich die arabischen Gesellschaften befinden: Indem man sich vor Augen führt, wie alle Bewohner*innen der arabischen Welt immer wieder an eiserne Grenzen stoßen, wie ihnen die Flügel der Phantasie, des Denkens und der Kreativität gestutzt werden.
In den arabischen Gesellschaften wird nur gefeiert und bejubelt, was banal und oberflächlich ist, was sich nicht ernsthaft mit den großen Gedanken auseinandersetzt. Während Texte, die Fake-News verbreiten, Hochkonjunktur haben, geht der Traum vom Fortschritt in die Brüche.
Khaled al-Khamissi
© Qantara.de 2020
Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez