Mysteriöse Tage

Vor über vier Monaten kam es in einer Vorstadt im Süden von Tunis zu heftigen Feuergefechten zwischen der Polizei und einer Gruppe von Bewaffneten. Bis heute aber weiß niemand in Tunesien, was sich wirklich zugetragen hat. Slim Boukhdhir berichtet.

Vor über vier Monaten kam es laut Regierungsangaben in einer Vorstadt im Süden von Tunis zu heftigen Feuergefechten zwischen der Polizei und einer Gruppe von Bewaffneten. Bis heute aber weiß niemand in Tunesien, was sich damals wirklich zugetragen hat. Slim Boukhdhir berichtet.

Der tunesische Präsident Zine El Abidine Ben Ali; Foto: AP
Über die wahren Hintergründe der islamistischen Anschläge hüllt sich das Regime von Präsident Ben Ali bisher in Schweigen

​​Seit die Diskussion über die Feuergefechte begonnen hat, fordern sowohl Organisationen der Zivilgesellschaft wie auch politische Parteien die Aufdeckung der wahren Hintergründe der Ereignisse. Trotzdem vergeht Woche um Woche, und noch immer gibt es keine endgültige Erklärung.

Zunächst wurde in regierungsnahen Zeitungen verkündet, die Schusswechsel Ende Dezember 2006 seien auf gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und einer Vorstadtbande von Drogenhändlern zurückzuführen.

Am 12. Januar 2007 jedoch erklärte der tunesische Innenminister Rafik Haj Kacem während einer Sitzung der Regierungspartei, vom 23. Dezember bis zum 3. Januar sei es zu Zusammenstößen eines Aufgebots der tunesischen Sicherheitskräfte und bewaffneten Islamisten der Salafiyya-Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC) gekommen, von denen 15 verhaftet und weitere zwölf getötet worden waren.

Die Gruppe sei aus Algerien eingesickert und habe unter Beobachtung der Polizei gestanden. Nach Verhaftung der 15 Mitglieder habe sich erwiesen, dass die bewaffnete Gruppe es auf ausländische Botschaften und Diplomaten abgesehen hatte.

Wenige Wochen später erhielten die Richter von den Behörden die Anklageschriften der Verhafteten, deren Zahl plötzlich nicht wie vom Minister bekannt gegeben 15 sondern 31 Angeklagte betrug. Ebenfalls im Gegensatz zu den Äußerungen des Ministers lautete die Anklage auf versuchten Sturz der Regierung, kein Wort über Anschläge auf ausländische Botschaften.

Viele ungeklärte Fragen

All dies hat die Unklarheiten über die Ereignisse vom 23. Dezember 2006 bis zum 3. Januar 2007 noch vergrößert. Daher werden die erwähnten zehn Tage von manchem Tunesier nun bereits als "Geheimnisvolle Tage" bezeichnet. Viele gehen davon aus, dass das Rätsel hinter den bewaffneten Auseinandersetzungen erst viele Jahre später aufgedeckt werden wird.

Warum hatte der Innenminister erklärt, die bewaffneten Kämpfer beabsichtigten Angriffe auf Botschaften und nicht, wie später behauptet, den Sturz der Regierung? Warum gab er an, die Sicherheitskräfte hätten Pläne der Botschaftsgebäude bei den Verhafteten gefunden? Dieser Umstand findet keine Erwähnung in der Anklageschrift, denn dort wurden die Kämpfer des versuchten Regierungssturzes beschuldigt.

Wieso sprach der Minister von 15 Verhafteten, tatsächlich aber wurden dem Gericht 31 Verhaftete vorgeführt? Weshalb dauerten die Auseinandersetzungen laut Aussage des Ministers volle zehn Tage, während in der Anklage lediglich von zwei Zusammenstößen die Rede ist? Warum hat keine Terrororganisation die Verantwortung für die Vorfälle übernommen? Welche Organisation steckt hinter den Ereignissen? Dies ist nur ein Teil der noch ungeklärten Fragen.

So kommentierte auch der bekannte tunesische Journalist Lotfi Hajji, die offiziellen Berichte steckten voller Widersprüche. Die Aussagen des Innenministers stünden im Gegensatz zu denen der Anklageschrift. Es gebe keine Dokumente (Fotos oder ähnliches), die die Regierungsangaben bestätigten.

"Ich kann dies nur so verstehen, dass die tunesische Regierung sich den Forderungen der Zivilgesellschaft verschließt und der Öffentlichkeit die Details der Ereignisse vorenthält", so Hajji.

Fehlende Beweise

Auch der Anwalt der 31 Verhafteten, der tunesische Rechtsaktivist und Islamismusforscher Raouf Ayadi, sagte aus, die Hintergründe der Ereignisse seien bis jetzt ungeklärt.

Mit großem Erstaunen habe er, nachdem die Angeklagten dem Untersuchungsrichter vorgeführt worden waren, bei der Akteneinsicht zur Kenntnis genommen, dass die Mehrzahl der Männer bereits vor dem 3. Januar verhaftet worden seien. Was, so frage man sich, haben diese Männer mit den Vorfällen zu tun?

Weiter fragt Ayadi, wo die Leichname der zwölf Männer seien, von denen der Minister gesprochen habe. "Wo sind die Überführungsprotokolle und die Berichte über ihre Beerdigung durch die Familien, sofern die Angaben des Ministers der Wahrheit entsprechen? Und wo sind die konkreten Beweise dafür, dass die bewaffneten Auseinandersetzungen mit den 31 Verhafteten tatsächlich und genau zum erwähnten Zeitpunkt stattgefunden haben?"

Zweifel lässt aber nicht nur die Anklageschriften aufkommen, auch in vielen Berichten der tunesischen Presse kam es zu gegensätzlichen Äußerungen, zu denen die Regierung bis heute nicht Stellung genommen hat. Nicht zuletzt deswegen ist die ganze Angelegenheit in höchstem Maße unklar.

Machtkämpfe innerhalb der Regierung?

Am 10. Januar brachte die französische Zeitung "Le canard enchaîné" eine Nachricht, die breites Interesse in Tunesien erregte und in der es hieß, dass das Auto der Gattin des tunesischen Präsidenten während der Auseinandersetzung zwischen den bewaffneten Kämpfern und den Sicherheitskräften beschossen worden sei. Dabei berief die Zeitung sich auf "zuverlässige diplomatische Quellen in Tunis".

Entgegen ihrer Gewohnheit schwieg die tunesische Regierung zu dieser Nachricht, was wiederum Raum für neue Spekulationen schuf: Sollte sie den Tatsachen entsprechen, so träfe dies vielleicht auch für andere Gerüchte zu, die besagten, bei den Auseinandersetzungen sei es um "regierungsinterne Machtkämpfe" gegangen.

Jedoch hält dies die Mehrzahl der tunesischen Beobachter nicht von Mutmaßungen ab, Tunesien könne Ziel islamischer Terroraktivitäten werden genau wie seine Nachbarländer.

Dagegen meint Dr. Muhammad al-Nouri, Leiter der internationalen Vereinigung zur Unterstützung politischer Gefangener: "Tunesien ist wie jedes andere Land der Welt nicht gefeit vor terroristischen Anschlägen. Unwahrscheinlich ist aber, dass von den als friedliebend bekannten Tunesiern selbst eine terroristische Bedrohung ausgeht, eher erwarte ich eine solche aus dem Ausland.

"Der Islamismus in Tunesien hat sich über einen langen Zeitraum von Gewalt und Extremismus in jeglicher Form distanziert, trotz seiner geographischen Nähe zu Ländern, in denen islamistischer Terror verbreitet ist. Deswegen ist der Vergleich etwa mit Algerien unrealistisch, und man sollte keinesfalls erwarten, dass in Tunesien ähnliche Entwicklungen bevorstehen."

Repressionen seitens der Regierung

Auch betont Dr. al-Nouri, soweit er wisse gebe es bis jetzt in Tunesien keine Hinweise auf eine Verbreitung von Strömungen, die Gewaltlosungen verbreiten, wie dies in anderen Ländern der Fall sei. Die Regierung müsse trennen zwischen einem Präventivkrieg gegen den Terrorismus, den sie angekündigt habe, und zwischen der Unterdrückung Unschuldiger, die lediglich rituelle Handlungen verrichteten und dafür in Scharen in die Gefängnisse wanderten. In vielen Fällen seien ihnen keinerlei politische Aktivitäten nachgewiesen worden.

Raouf Ayadi ist ebenfalls nicht der Meinung, dass die jüngsten Verhaftungswellen junger Tunesier, die oft nur deshalb, weil sie gebetet haben ,auf den Polizeistationen gefoltert werden, als probates Vorgehen gegen Terrorismus gelten können:

"Es handelt sich um die totale Unterdrückung ganz gewöhnlicher tunesischer Bürger, die nicht im Entferntesten dem Terrorismus zuneigen. In den Akten der Verhafteten findet sich daher nicht nur keinerlei Hinweis auf ihre Schuld, sondern sie werden noch nicht einmal eines bestimmten Vergehens bezichtigt."

Da es in Tunesien keine konkreten Hinweise auf terroristische Aktivitäten gebe, so Muhammad Al-Nouri, komme die fortgesetzte Unterdrückung unschuldiger Bürger unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung der Verbreitung einer Gewaltkultur gleich. Diese stünde in Gegensatz zum politischen Alltag und den ideologischen Überzeugungen der Bevölkerung. Dieser Schuss könne leicht nach hinten losgehen.

Der Anwalt der Verhafteten, Raouf Ayadi, hingegen fürchtet am meisten, dass das tunesische Regime, das polizeistaatliche Züge trage, die allgegenwärtige Angst vor dem islamischen Terrorismus und die aktuellen Ereignisse ausnutzen wolle, um die tunesischen Bürger zu unterdrücken und die Gesellschaft kollektiv einzuschüchtern.

Ziel sei es, die Tunesier in die Knie zu zwingen und ihre Teilnahme am politischen Geschehen und die Ausübung ihrer Religiosität zu verhindern. Man versuche, auf diesem Wege die Forderungen nach politischen Reformen, nach mehr Freiheit und Demokratie im Lande zu ersticken.

Slim Boukhdhir

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell

© Qantara.de 2007

Slim Boukhdhir ist tunesischer Journalist und lebt in Tunis.

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