Zwischen Autoritarismus und Islamismus

Die tunesische Rechtsanwältin und Feministin Saida Garrache ist seit 2006 Generalsekretärin der "Tunesischen Vereinigung demokratischer Frauen". Ein Gespräch über ihre schwierige Arbeit.

Interview von Martina Sabra

Frau Garrache, welche Möglichkeiten haben Sie, in Tunesien mit Ihren Anliegen an die Öffentlichkeit zu gehen?

Saida Garrache: Die Möglichkeiten sind zurzeit sehr begrenzt, denn der tunesische Staat unterdrückt die bürgerlichen und individuellen Freiheiten, und dazu zählt auch die Freiheit, sich in unabhängigen Zusammenschlüssen zu engagieren. Seit Jahren wird im Namen der angeblichen Islamismus- und Terrorbekämpfung und im Namen der Stabilität jede unabhängige Strömung unterdrückt.

Wir dürfen keine öffentlichen Versammlungen abhalten, keine öffentlichen Kampagnen veranstalten, wir dürfen keine Texte veröffentlichen. Niemand kann zu uns in die Vereinsräume kommen, und wir können nicht zu den Menschen gehen. Seit vier Jahren haben wir keine einzige öffentliche Veranstaltung abgehalten. Nicht einmal unsere Mitgliederversammlungen wurden genehmigt.

Und wenn sich Ihre Vereinigung über solche Verbote hinwegsetzt?

Garrache: Wir können uns nicht einfach über die Verbote hinwegsetzen, denn in der Umgebung des Lokals ist ständig Zivilpolizei postiert. Selbst unsere Mitglieder werden zeitweise daran gehindert, die Vereinsräume zu betreten.

Während des "Informationsgipfels" 2005 war die iranische Menschenrechtlerin und Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi gekommen, um den "Gipfel der Bürger" zu eröffnen. Die Eröffnung sollte in unseren Räumen stattfinden. Doch viele Teilnehmer, darunter auch Politiker und Journalisten, wurden von der Zivilpolizei am Zugang gehindert.

Hat das auch Auswirkungen auf die Finanzierung Ihrer Projekte?

Garrache: Damit haben wir ein großes Problem. Sämtliche Gelder, die wir aus dem Ausland für unsere Projekte erhalten, müssen die Zentralbank passieren. Seit einigen Jahren werden bestimmte Projektmittel blockiert. Rund um den Informationsgipfel sollten wir verschiedene Zuschüsse bekommen, auch von Geldgebern aus Deutschland, doch wir konnten nicht an das Geld herankommen.

Seit einigen Wochen spitzt sich die Situation zu. Wenn es so weitergeht, werden wir in einigen Wochen gezwungen sein, die Vereinsräume zu schließen. Wir können die einfachsten Dinge nicht mehr bezahlen, sei es die Miete, seien es die Angestellten im Beratungszentrum für Opfer von Gewalt. Wenn wir keine Lösung finden, werden wir Geschichte sein.

Das heißt, die ohnehin schwierige Lage der ATFD ("Association Tunisienne des Femmes Démocrates") hat sich noch einmal stark verschärft?

Garrache: Ja. Wir waren eine der letzten Zufluchtsmöglichkeiten für andere autonome Organisationen. Von den 8000 eingetragenen Organisationen ist vielleicht eine Handvoll unabhängig, und von diesen fünf oder sechs haben nur zwei eine Zulassung.

Die Liga für Menschenrechte kann seit über einem Jahr nicht in ihre regionalen Lokale hinein, und die Räume in der Hauptstadt dürfen nur von den Vorstandsmitgliedern betreten werden. Wir, die ATFD, sahen uns gezwungen, der Liga für Menschenrechte Räume für ihre Versammlungen anzubieten. Die Regierung hat uns wissen lassen, dass sie dieses Vorgehen nicht länger dulden wird.

Müsste das tunesische Regime nicht ein Interesse daran haben, säkulare, demokratische Frauengruppen zu fördern? Auch als Gegengewicht zum sich ausbreitenden Islamismus?

Garrache: Nicht alle jungen Frauen, die den Schleier tragen, sind politisch überzeugte Mitglieder der islamistischen Bewegung. Das Problem ist, dass die jungen Leute bei uns immer mehr Schwierigkeiten haben, Arbeit zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen. Viele leben noch mit dreißig Jahren bei den Eltern.

Man tritt also gesellschaftlich auf der Stelle, und politisch hat man keine Möglichkeit, sich auszudrücken. Es gibt keine demokratische Öffentlichkeit, es wird nicht debattiert. Auch die Massenmedien sind keine Alternative. Man schaut die ostarabischen Fernsehsender an, Al-Jazeera, Al-Manar, mit allem, was sie an Denkweisen beinhalten. Es scheint nur noch eine Alternative zu geben: entweder die Flucht in Kriminalität und Drogen oder die Flucht in die Religion.

Wenn man alle Auswege derart verstellt, können die Menschen kaum anders, als immer religiöser zu werden. Hier versagt meiner Meinung nach die tunesische Innenpolitik, und nicht nur das: Es gibt auch eine Kumpanei der europäischen Regierungen, weil man die Migranten aus Afrika zurückdrängen will.

Die Lösung europäischer Sicherheitsfragen wird den Regimes vor Ort aufgedrückt. Bei der EU denkt man offenbar: Solange sie uns helfen, unsere wirtschaftlichen Interessen wahren, schauen wir in Bezug auf die Menschenrechte einfach weg.

Sie sind als DemokratInnen gewissermaßen eingeklemmt zwischen Autoritarismus und Islamismus?

Garrache: Zweifellos. Und das ist auch das, was ich unseren Mächtigen vorwerfe: Im Namen der angeblichen Islamistenbekämpfung werden sämtliche oppositionelle Stimmen im Keim erstickt. Dabei kann man Tunesien nur vor dem Islamismus bewahren, wenn man eine wirkliche Staatsbürgerlichkeit einführt und Institutionen schafft, die demokratische Prinzipien garantieren.

Die Trennung der Gewalten, die Wiederherstellung der Institutionen der Republik, die Demokratisierung der Gesellschaft, individuelle Freiheiten, soziale Gerechtigkeit - man kann sicher nicht mit einem Fingerschnipp alle Probleme lösen, aber man muss es zumindest versuchen. Alle zu unterdrücken, wird nur den Extremisten helfen.

Wie reagiert das tunesische Regime auf die islamistische Herausforderung?

Garrache: Das Regime macht Konzessionen. Es wird ständig unterm Tisch verhandelt. Mich persönlich würde es nicht wundern, wenn irgendwann bei einer Wahl das Regime und die Islamisten gemeinsame Sache machten. Offiziell sind sie zwar verboten, aber die Ennahda (tunesische Partei, die sich für die Verankerung islamischer Werte in der Gesellschaft einsetzt. Anm. d. R.) hat immer existiert, und sie haben immer kommuniziert.

Das Problem ist auch, dass es mittlerweile Strömungen gibt, die viel radikaler sind als die Ennahda, zum Beispiel die Dschihadisten, die Salafisten, die in Afghanistan gekämpft haben. Selbst die Ennahda ist schon ein bisschen "out", nach dem 11. September. Das Problem ist: Niemand macht nachhaltige Politik, sondern man agiert immer nur kurzfristig.

Ich bin Rechtsanwältin. Eine meiner Kolleginnen hatte mit jungen Extremisten zu tun. Sie wollten von ihr nicht verteidigt werden, weil sie keinen Schleier trug.

Eine verschleierte Mitstreiterin von mir meinte kürzlich: "Im Verhältnis zu denen sind wir schon fast Atheisten!" Aber die Mächtigen interessiert nur eins: kurzfristig an der Macht bleiben. Wenn es kritisch wird, machen sie sich aus dem Staub. Den Preis werden wir bezahlen, das einfache Volk. Die Mächtigen fliehen nach Europa, und wir werden zahlen.

Interview: Martina Sabra

© Qantara.de 2006

Die Tunesische Vereinigung Demokratischer Frauen (Association Tunisienne des Femmes Démocrates, ATFD) wurde 1989 in Tunis gegründet. Sie ging aus der autonomen Frauengruppe Club Tahar Haddad hervor, die sich 1978 im gleichnamigen Kulturzentrum in der Altstadt von Tunis gebildet hatte. Die ATFD hat nach eigenen Angaben rund 500 Mitglieder in ganz Tunesien.

Die ATFD ist eine unabhängige Nichtregierungsorganisation, ihr Ziel ist die Abschaffung jeglicher geschlechtsspezifischer Diskriminierung sowie die Verbesserung der Situation von Frauen und Mädchen, vor allem in rechtlicher, aber auch in sozialer und ökonomischer Hinsicht. Die ATFD fordert, dass das tunesische Zivilstandsrecht (Code du Statut Personnel, CSP) nicht nur beibehalten, sondern auch in Richtung Gleichstellung weiterentwickelt wird.

Politisch plädiert die ATFD für eine klare Trennung von Staat und Religion, für Demokratisierung und für die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte in Tunesien.

Finanzielle Unterstützung erhält die ATFD unter anderem von der Friedrich-Naumann-Stiftung, im Rahmen eines regionalen Anti-Gewalt-Projektes. Die ATFD ist außerdem Mitglied im Collectif Maghreb Egalité sowie im Netzwerk Aicha.

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