''Putsch 2.0'' – Staatszerfall in Ägypten?
Ägyptens Generäle haben zum zweiten Mal innerhalb von etwas mehr als zwei Jahren geputscht und die politische Ordnung außer Kraft gesetzt. Nach dem Verstreichen des vom Militär gesetzten Ultimatums, mit der Forderung nach Dialog und Einigung mit den Protestgruppen, wurde der Präsident kurzerhand in Kenntnis gesetzt, dass er nicht mehr Präsident des Landes sei.
Die Reaktion auf diesen Militärputsch war sowohl auf der Straße als auch in den virtuellen Räumen sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter überwiegend positiv, zum Teil sogar euphorisch. Dem Militär wurde gedankt, dass es zum zweiten Mal "Hand-in-Hand mit dem Volk" – so das Narrativ von 2011 – einen Diktator "verjagt" hat.
Diese Hochstimmung verdeckt aber, dass die tiefgreifenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme des Landes durch dieses abermalige Eingreifen des Militärs noch verstärkt wurden. Für Grundsatzentscheidungen fehlt der politische Wille, der gesellschaftliche Konsensus und eine Einigkeit der wichtigsten politischen Elitengruppen über Art, Weise und Spielregeln der politischen Transformation zur Demokratie.
Königsmacher Militär
Das Eingreifen des Militärs ist zunächst nicht überraschend, da es erstens seit 2011 der einzig verbliebene Akteur ist, der trotz einiger Personalrochaden in der Generalität und im Offizierskorps, seine Funktionsfähigkeit inklusive der Befehlskette "von oben nach unten" nicht verloren hat (im Vergleich zu Polizei und Geheimdienst).
Zweitens war das Militär seit Gründung der Republik stets darauf bedacht, seine besondere herrschaftspolitische Rolle mitsamt verzweigter Privilegien zu verteidigen. Dieses Privilegiensystem bedurfte aber eines Mindestmaßes an politischer Stabilität, das 2011 und 2013 im Zuge der Massenproteste aus Sicht des Militärs in Gefahr schien.
Mit dem abermaligen Eingreifen des Militärs wurde der Verfall eines mühsam geschaffenen, post-revolutionären Institutionengefüges billigend in Kauf genommen, das zwar das Ergebnis heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen aber auch – zum ersten Mal seit Gründung der Republik vor 60 Jahren – das Resultat demokratischer Legitimation durch Wahlen (bzw. Referendum) war.
Das Militär verweist nun wiederholt auf seine sich selbst übertragene Rolle als Wächter der staatlichen Ordnung. 2011 sah sich das Militär schon einmal als Hüter dieser Ordnung und als Garant der staatlichen Einheit, das der autoritären Entartung unter Mubarak Einhalt gebot. Konsequenz war die Belohnung mit einer quasi supra-konstitutionellen Rolle in der neuen – nun suspendierten – Verfassung.
Lehrstunde 2011
In einem Punkt unterscheidet sich der aktuelle Putsch von seinem Vorgängermodell 2011: Die Generalität strebt nicht mehr nach formaler, exekutiver Entscheidungskompetenz, zu sehr sind den Generälen wohl die Erfahrungen mit dem Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF) nach dem erzwungenen Rücktritt von Mubarak in Erinnerung.
Nun wird die Macht dem erst seit wenigen Tagen im Amt befindlichen Präsidenten des Obersten Verfassungsgerichts, Adli Mansour, übertragen; ein bis dato eher unauffälliger Karrierejurist. Er und seine noch zu bildende Technokraten-Regierung stehen vor einer schier unlösbaren Aufgabe: Ägypten steht politisch und ökonomisch massiv unter Druck. Die Einigung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über eine Kreditlinie steht immer noch aus.
Für politische Grundsatzentscheidungen fehlt der politische Wille, der gesellschaftliche Konsensus und eine Einigkeit der wichtigsten politischen Elitengruppen über Art, Weise und Spielregeln der politischen Transformation zur Demokratie.
1952 vs. 2013
Eine neue politische Ordnung nach Mursi ist nur unter Einbezug sämtlicher sozialen Gruppen und politischen Akteure umsetzbar. Das rabiate Vorgehen des Militärs und der Justiz gegen die Muslimbruderschaft mit hunderten Haftbefehlen sendet seit der Absetzung des Präsidenten gefährliche Signale aus.
Diese Strategie ruft mitunter die kurze Allianz zwischen Gamal Abdel Nasser, dem ersten Staatspräsidenten der Republik, und der Muslimbruderschaft in den frühen 1950er Jahren in Erinnerung. Diese Allianz zerbrach früh und endete für die Muslimbruderschaft im militanten Untergrund im Zuge totaler staatlicher Verfolgung durch das Nasser-Regime (mit Strahlkraft auf die gesamte Region).
Außer Frage steht, dass sich die Präsidentschaft Mursis zum Teil katastrophale Fehler zuzuschreiben hat. Programmatisch hat sie zum Teil vollumfänglich versagt und hat es nicht geschafft, die zentralen Institutionen und politischen Gruppierungen des Landes einzubinden, weil sie zu sehr damit beschäftigt war, eine klientelistische Politik für das eigene religiöse Lager zu formulieren.
Dem ging ein problematisches Demokratieverständnis einher, das den Wahlsieg als Freifahrtschein für eine umfängliche Machtergreifung missverstand. Dieses Scheitern und diese Defizite dürfen nun aber nicht eine Exklusion dieser Gruppierung im politischen Wettbewerb zur Folge haben, schon alleine da sie immer noch auf eine breite politische und religiöse Basis in der Gesellschaft zurückgreifen kann.
Wege aus der Krise
Ägypten befindet sich seit dem "Putsch 2.0" wieder am Tag "Null" nach Mubarak, mit einer Einschränkung: Ein Neuanfang nach zwei "verlorenen Jahren" wird nur gelingen können mit Einbezug aller politischen und gesellschaftlichen Gruppen, das umfasst insbesondere die jungen Protest-Protagonisten der ersten Stunde und die Islamisten der Muslimbruderschaft bis hin zu den radikalen Kräften (Salafisten), sofern sie die Spielregeln der politischen Auseinandersetzung akzeptieren.
Ohne diesen Runden Tisch, der sämtliche Akteure in den institutionellen Rahmen zurückbringt, wird sich nämlich die Erosion der institutionellen Ordnung noch weiter beschleunigen. Die Zeit drängt, denn eine drohende, weitere makroökonomische Verschlechterung führt zu einer zunehmenden Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung und einer Stärkung der politischen Ränder, was den institutionellen Rahmen der staatlichen Ordnung bedroht und letztlich einen Staatszerfall zur Folge haben kann.
Thomas Demmelhuber
© Qantara.de 2013
Professor Dr. Thomas Demmelhuber ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Stiftung Universität Hildesheim.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de