''Der Osten atmet Religion''
Die Wirklichkeit, schrieb Hermann Hesse in seinem Text "Kurzgefasster Lebenslauf", sei "das, womit man unter keinen Umständen zufrieden sein darf". Diese "schäbige, stets enttäuschende oder öde Wirklichkeit" sei nur zu ändern, "indem wir sie leugnen, indem wir zeigen, daß wir stärker sind als sie". Die hier zum Ausdruck kommende Verachtung des Dichters angesichts der Gegebenheiten verweist auf Hesses lebenslangen Fluchtimpuls und seine anhaltende Suchbewegung.
Gunnar Decker hat sich in seiner Biographie "Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten", des längst zur legendären Gestalt gewordenen Dichters mit viel Sympathie - aber ohne Verklärung - und kritischer Distanz - aber ohne Überheblichkeit - angenommen. "Dieser unverkennbare Strohhutträger", schreibt Decker, "ist keineswegs ein kommunetauglicher Gemütsmensch; den unbeschwerten 'Wandervogel' muss man woanders suchen. Dies hier ist ein notorisch reizbarer Einzelgänger, der andere Menschen – sogar die eigenen Ehefrauen – immer nur in gehöriger Distanz zu ertragen vermag. Körperliche Berührung behagt ihm ebenso wenig wie unangemeldeter Besuch. Eine innere Harmonie findet er kaum je, obwohl er sie mit Goethe ständig beschwört. Sein Leben pendelt. Phasen des Schöpferrausch folgen Zeiten tiefster Depression." So stellt uns Decker einen zerrissenen Menschen vor, einen Wanderer, der zeitlebens auf der Suche nach innerer Harmonie vom Dämon der Selbstzerstörung als seinem Schatten begleitet wurde.
Auch Hesses Wirkungsgeschichte pendelt und war verschiedenen Konjunkturen unterworfen. Die Rezeption seines Werks unterlag den Schwankungen der literarischen Moden. So wurde er zu einem der erfolgreichsten, zugleich aber auch zu einem der am wenigsten ernst genommenen deutschen Schriftsteller. Nachdem er 1946 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, war er zunächst in Amerika alles andere als erfolgreich, bevor er dann, schreibt sein Biograph, "zum heimlichen Häuptling der Antivietnamkriegsbewegung" wurde. Die amerikanische Band, die sich nach seinem bekanntesten Roman "Steppenwolf" benannte, brachte mit "Born to be wild" das Lebensgefühl einer ganzen Generation auf den Punkt, während Timothy Leary seine Werke als Begleitung zum LSD-Trip empfahl.
Die Hippies und die 68er entdeckten Hesses "Eigensinn" für sich, seine Aversion gegen Nationalismus und Patriotismus, und sorgten für eine weltweite Hesse-Renaissance die bis heute das Bild des Autors prägt. In den 1970er Jahren war Hesse der weltweit erfolgreichste deutsche Autor. Aber auch fünfzig Jahre nach seinem Tod bleibt er umstritten. Für die einen ist er, so Decker, "ein naiver Naturschwärmer, Kitschdichter knapp oberhalb von Courth-Mahler", für die anderen ein Prophet der Befreiung und der Selbstverwirklichung.
Flucht in die Literatur
Aufgewachsen in einer pietistischen Familie, deren Rigorismus und Strenge kompromisslos war, litt der 1877 geborene Hesse am Dogmatismus, der allein den schmalen Weg der peniblen Befolgung der Gebote und Regeln gelten ließ. Seine Erziehung bestand aus strenger Zucht, Drill und Strafandrohung. Die Literatur versprach einen Ausweg. Der junge Hesse las Goethe und Heine und begann selbst zu schreiben. Als Achtzehnjähriger plante er eine Auswanderung nach Brasilien und fasste den Entschluss, Deutschland und Europa den Rücken zu kehren. Stattdessen aber wurde er Lehrling in einer Tübinger Buchhandlung.
In Hesses eingangs zitierter Wirklichkeitsverachtung ist sicherlich beides vorhanden: eine Reaktion auf das pietistische Milieu, aus dem er stammt, und zugleich das Echo des diesem Milieu zugrunde liegenden Idealismus. Sein Hang zur Romantik und zur Exotik ist das eine, seine zwanghafte Rastlosigkeit das andere. Er feiert Eigensinn und Müßiggang und schafft es doch selber nur in seltenen Momenten, diesen Idealen zu entsprechen und die an ihm nagenden Zweifel und den ihn antreibenden Fleiß hinter sich zu lassen. Im Gartenkauz steckt immer auch der Choleriker.
Neben die Flucht des jungen Hesse ins Literarische treten bald auch physische Aufbrüche. Zwar wird der Plan einer Auswanderung nach Brasilien nie umgesetzt, aber immerhin reist Hesse nach Italien. Bologna, Ravenna, Padua und Venedig bedienen damals das Bedürfnis nach Exotik. Der Süden steht, ähnlich wie zur selben Zeit der Orient, für Ursprünglichkeit und Natürlichkeit und bietet Projektionsflächen für idyllische Gegenwelten.
Hier scheint man noch von der Moderne und ihrer nervösen Hektik und lauten Technik verschont geblieben zu sein. "Diese Leute sind", lobt Hesse die Italiener, "von einer Naivität und Sicherheit des Sichgebens, dabei von einer natürlichen Lebensart und Beweglichkeit, neben der wir Nordländer Marionetten sind."
Zwischen Kleid und Kostüm
Eine ähnliche Rolle wie Italien nimmt dann später Indien ein. 1911 begibt Hesse sich auf die Spuren seines Großvaters Hermann Gundert, der als Missionar in Indien gewesen war, und reist nach "Hinterindien", Ceylon, Sumatra und Singapur. Italien reichte nun nicht mehr, die echte Alternative zum modernen Europa lag weiter ostwärts. Aber auch hier wartet Ernüchterung und Hesse musste "die scheußliche Erfahrung" machen, "daß der seelenvolle, suchende Beterblick der meisten Inder gar nicht ein Ruf nach Göttern und Erlösung ist, sondern einfach ein Ruf nach Money".
Die Suche nach dem Authentischen entpuppt sich als einzige Enttäuschung, von den Religionen und Kulturen die er zu entdecken gehofft hatte, bleibt nichts als Folklore: "Der Buddhismus von Ceylon", notiert er, "ist hübsch, um ihn zu photographieren und in Feuilletons darüber zu schreiben; darüber hinaus ist er nichts als eine von vielen rührenden, qualvoll grotesken Formen, in den hilfloses Menschenleid seine Not und seinen Mangel an Geist und Stärke ausdrückt." Das echte Indien reicht an das Indien der Phantasie nicht heran.
Als er 1922 an "Siddhartha" schreibt, ist ihm bewusst, dass "das Indisch-Brahmanische dran nur Kleid" sei, doch, fügt er hinzu, "ist Kleid hier immerhin mehr als Kostüm". In Form einer "indischen Dichtung", wie er das Buch untertitelt, verhandelt Hesse die Krise Europas und die eigene Suche nach einem sinnvollen Leben. "Siddhartha" ist der Versuch einer Synthese von östlichem und westlichem Denken, wie der Autor in einer Vorrede zur japanischen Ausgabe 1955 erklärt: "Wir erkennen östliche und westliche Weisheit nicht mehr als feindlich sich bekämpfende Mächte, sondern als Pole, zwischen denen fruchtbares Leben schwingt."
In der idealisierten Spiritualität Asiens findet Hesse eine ihm angenehmere Form des Religiösen und damit eine Alternative zur Religion des Elternhauses. "Der ganze Osten", schreibt er in der Tradition des Orientalismus, "atmet Religion, wie der Westen Vernunft und Technik atmet. Primitiv und jedem Zufall preisgegeben scheint das Seelenleben des Abendländers, verglichen mit der geschirmten, gepflegten, vertrauensvollen Religiosität des Asiaten." Dabei ist das, was er im Osten findet, der heimatlichen Ausprägung des Christentums verwandter, als es auf den ersten Blick scheint: Das Regelwerk des Pietismus tauscht er gegen eine poetisch-mystische Form des Pantheismus und aus der pietistischen Abneigung gegen alles Weltliche wird bei Hesse jene naturverherrlichende Moderne- und Technikfeindlichkeit, die ihn später für die Öko-Bewegung anschlussfähig macht.
So findet Hesse im Osten zuletzt immer wieder nur den Westen. Der Protestantismus seiner Kindheit lässt sich nicht abschütteln. Als "eine auf das Leben selbst bezogene Geistunmittelbarkeit", so Gunnar Decker, bleibt er Hesses ständiger Begleiter. In "Siddhartha" probe Hesse "die protestantische Perspektive anhand des östlichen Denkens". Hesse selbst hat erkannt, dass die östliche Alternative keine Abkürzung zur Erlösung bietet. Wer in Europa die Reden Buddhas lese und durch sie Buddhist werde, habe "statt des Weges, den uns Buddha vielleicht zeigen kann, einen Notausgang gewählt".
Andreas Pflitsch
© Qantara.de 2012
Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Hanser Verlag München 2012, 703 Seiten.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de