Wie Said Musik hörte
Das Buchcover macht neugierig. Hinter orange-transparentem Einband blickt Lesern ein waches, scharf geschnittenes Intellektuellenantlitz entgegen: ein eleganter älterer Herr mit grau meliertem Haar, der sich als der angesehene arabisch-amerikanische Intellektuelle Edward W. Said (1935-2003) entpuppt.
In Jerusalem geboren, ist Said nicht nur ein streitlustiger New Yorker Literaturtheoretiker und Anwalt der Palästinenser in den USA, sondern auch kultivierter Amateurpianist, Mitbegründer des israelisch-palästinensischen West-Eastern Divan Orchestra, Autor der seinerzeit aufsehenerregenden Untersuchung "Orientalismus" (1978) und zahlreicher weiterer Buchpublikationen gewesen.
Seine gesammelten Musikkritiken liegen nun auch in der Sprache Wagners und Beethovens vor. Posthum veröffentlicht, vereinigt die deutsche Ausgabe 36 Konzertkritiken sowie allgemein gehaltene Essays und Buchrezensionen über Musik.
Beißende Attacken zuhauf
Nicht weniger als eine umfassende musiktheoretische Lebensbilanz eines kritischen Geistes, möchte man meinen, und der euphorische Klappentext verspricht denn auch "erfrischend deutliche" Stellungnahmen, "scharfsinnige, maßstabsetzende Überlegungen zum Stand der Musik im 21. Jahrhundert", "Liebesgeschichten und beißende Attacken zugleich". Man darf also mit Fug und Recht gespannt sein auf die Lektüre von Saids fast vierhundert Seiten starken Einlassungen, sämtlich Übernahmen aus The Nation, für die er von 1986 an als Musikkritiker tätig war, aber auch aus der New York Times Book Review, aus Vanity Fair, Harper's und The Observer.
Um es gleich vorweg zu sagen: "Beißende Attacken", nämlich völlig überzogene, polarisierende Einschätzungen, finden sich in der Tat zuhauf. Aber mit der Genauigkeit des historischen wie ästhetischen Urteils hapert es allerorten leider gehörig. Bereits nach dem Studium der ersten hundert Seiten macht sich Ernüchterung breit, nach zweihundert Enttäuschung, nach dreihundert schließlich Verärgerung und Kopfschütteln.
Es sind keineswegs Saids faszinierende Belesenheit, seine immense Kenntnis des Opern- und Klavierrepertoires, seine soziologisch-poetisierende Klassifizierung der Pianistik, seine Eloquenz und gelegentlich aufschimmernde Formulierungskunst, die hier nachhaltig verstimmen.
Ebensowenig sind es Saids durchweg lautere Anliegen: der nachvollziehbare Wunsch nach einer differenzierten, intelligenten, ja "utopischen" Programmgestaltung bei Klavierabenden, Opernaufführungen und Symphoniekonzerten, sein energisches Eintreten für ein lebendiges zeitgenössisches Regietheater, seine Polemik gegen rein kulinarisch ausgerichtete, allzu opulente Sommerfestivals, seine plausiblen Begründungen für die Notwendigkeit, Wagner auch in Israel aufzuführen, sein kontinuierlicher Einsatz für Richard Strauss, Pierre Boulez oder Glenn Gould, seine Begeisterung für den Regie-Provokateur Peter Sellars, seine Skizze über den Ausnahmedirigenten Sergiu Celibidache oder sein Plädoyer für eine Würdigung des Theatererneuerers Richard Wagner.
Nein, es handelt sich vielmehr um einen wahren Platzregen aus undifferenzierten Pauschalurteilen und Beleidigungen, die befremden und irritieren.
Geringschätzung von Komponisten
Said lässt diesen Platzregen praktisch im Seitenabstand auf seine Leser niedergehen und stößt dabei mit einer unerträglichen, weil nivellierenden Geringschätzung von Komponisten und Interpreten jeglicher Couleur selbst die wohlmeinendsten Leser vor den Kopf. Kostproben gefällig? Horowitz bezeichnet Said als "Vorbild für schrillen Pianismus", Richard Strauss' musikalisches Idiom als "oberflächlich, leer, kompliziert"; Charles Mackerras' Dirigate gelten ihm als "lasche, schrecklich schludrige, skandalöse Arbeit", die historische Bedeutung des Komponisten Franz Krommer wird als "vollkommen belanglos" abgetan.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Said versteigt sich dazu, das gesamte italienische Opernrepertoire als "zweitklassig" zu verunglimpfen – lediglich an Rossini lässt er noch das eine oder andere gute Haar. Pavarotti, gewiss eine Reizfigur, bekommt sein Fett hier gleich doppelt und dreifach ab: "eine groteske Figur". Und das Figurenarsenal des 19. Jahrhunderts wird in toto mir nichts, dir nichts mit unbedarften Aussagen wie "Alle Helden sind pummelig, laut und dumm – wie die Musik, die sie singen" zur Strecke gebracht.
Als erklärter Feind des Belcanto-Repertoires schlechthin schreibt Said kurzerhand die Musikgeschichte um. So deklassiert er Bellinis Meisterwerk "I puritani" wie folgt: "Ein seltsames, ja verrücktes Spektakel mit endlose(r) Stimmakrobatik, geistlose(r) Handlung und sinnlosen Anspielungen auf das England des 17. Jahrhunderts."
Bloße Äußerlichkeiten sind ihm Anlass, verdiente internationale Orchesterleiter der Lächerlichkeit preiszugeben: "Wenn es beim Dirigieren denn so etwas wie einen Valentino-Torero-Stil gab, dann verkörpert Dutoit ihn: schmale Hüften, graziler Torso, steife Beine und finsterdrohende Miene." Der eine oder andere Lacher mag Said bei seinen Zeitungslesern mit solchen Entgleisungen sicher gewesen sein; in Wirklichkeit aber macht sich hier nichts als unseriöse Perpetuierung althergebrachter Vorurteile breit.
Die mit präziser Musikbeschreibung unvereinbaren, weil allzu kumpelhaften Jargonausdrücke Saids verstören in ihrer Häufung rasch und auch das eine oder andere launige Bonmot wie "Zugaben finde ich fürchterlich, wie Essensflecke auf einem hübschen Anzug" verstärkt den verheerenden Eindruck, hier würden statt fachlich aussagekräftiger Details Gemeinplätze beliebig in den Text eingestreut.
Fragwürdiges Sprachniveau und Besserwisserei
Zum fragwürdigen Sprach- und Charakterisierungsniveau gesellt sich ein besserwisserischer, dann wieder gönnerhafter Tonfall: Weder Alfred Brendel – "nicht genug Impulsivität und Phantasie, zu viel gewissenhafte Erklärung und gekünstelte Emphase" – noch Murray Perahia – "roh und geistlos", "zu akademisch und ängstlich" – finden Gnade vor Saids Augen. Und auch die unzweifelhafte Bedeutung eines Jahrhundertkomponisten wie Bartók wird mit unbekümmertem Achselzucken relativiert: "Ich muss gestehen, dass mich Bartók nie so ganz überzeugen konnte."
Der allseits bewunderte Weltstar Vladimir Ashkenazy, der als Pianist und zugleich als Dirigent hervorgetreten ist, wird von Said publizistisch geradezu hingerichtet. Nach seiner Einschätzung "wurde fast jeder seiner [Klavier-]Auftritte zu einer Enttäuschung, nicht nur wegen der seltsam schwerfälligen und ausdruckslosen Perfektion seines Spiels, sondern auch wegen des Eindrucks, dass er sehr wenig zu sagen oder zu wagen habe".
Als Mann am Pult dagegen habe er vollends versagt: Seine Orches-terleitung lasse "Intelligenz und Kompetenz vermissen". In Saids pianistischem Universum zählen nur Lichtgestalten wie Gould oder Maurizio Pollini, die er geradezu vergöttert. Doch wehe, wenn ein Pollini Jahre später, nach Richtungsänderungen seiner Repertoirewahl und seines Vortragsstils, auszuscheren wagt. Dann muss er über sich lesen, über Nacht "eine schmerzlich unerfreuliche, sogar geradezu abstoßende Version seiner selbst" geworden zu sein.
Mehr als einmal fragt man sich, wie solche ins Groteske gesteigerte Polemik als "Musikessayistik" zwischen zwei Buchdeckel gelangen konnte. Als spontane, unter dem Eindruck des Konzerterlebnisses geschriebene Kurzcharakteristik möchten solche Passagen vielleicht gerade noch hinnehmbar sein, als Musikessays jedoch nicht.
Dem Zeitgeschmack geschuldet
So verdeutlichen Saids zum Buch kompilierte Besprechungen paradigmatisch, wie problematisch eine unreflektierte Veröffentlichung einer Sammlung von Konzertkritiken ausfallen kann: Vieles in seinen Kommentaren ist dem Zeitgeschmack geschuldet, entbehrlich oder schlichtweg veraltet; einiges ist nur noch für den damaligen Konzertbesucher oder besprochenen Interpreten von Belang. Eine gehörige Straffung, Kürzung und kritische Sichtung hätte dem Band deshalb gutgetan.
Essays zu Glenn Gould und Kurzanalysen von Fidelio häufen sich unnötig und sind voller argumentativer Wiederholungen. Auf weitschweifige Inhaltsangaben beispielsweise zu Wagners Ring können deutsche Leser getrost verzichten. Saids Rekurs auf immer dieselben Romanzitate sind redundant und scheinen dem Lektorat entgangen zu sein. Merkwürdig auch, dass aus Christoph Wolffs Bach-Biografie abwechselnd aus der deutschen, dann wieder aus der englischen Fassung zitiert wird. Nicht zuletzt die gebetsmühlenartige Verteufelung der New Yorker Met ermüdet und langweilt am Ende nur noch.
Des Weiteren fallen Ungereimtheiten in Saids durch und durch abendländisch geprägter Musikauffassung auf: Zum einen beklagt er mit Recht das sinnentleerte Festhalten am ewig gleichen Konzert- und Opernrepertoire im amerikanischen Musikbetrieb.
Doch die Tonschöpfer, auf die er selbst sich in seinen Beiträgen konzentriert, stammen samt und sonders aus exakt diesen Epochen: Bach, Beethoven, Mozart, Wagner, gelegentlich Schumann. Von Adams, Reger, Boulez oder Stockhausen abgesehen, scheint die Musik des 20. Jahrhunderts in Saids Vorstellung hingegen kaum eine Rolle zu spielen. Satie beispielsweise kommt nicht vor, Debussy und Ravel werden höchstens am Rande erwähnt, Schostakowitsch oder Prokofjew nur als "name-dropping" untergebracht.
Für einen Musikkritiker, der sich an eine ausschließlich amerikanische Großstadtleserschaft wendet, erstaunt ferner der durchgängige Verzicht auf die Diskussion genuin amerikanischer Musik: Charles Ives, Samuel Barber, Virgil Thomson und Elliott Carter bleiben ebenso Randfiguren wie Copland und Bernstein. Ned Rorem findet überhaupt keine Beachtung und Paul Bowles erscheint nur in einer Aufzählung, jedoch mit falscher Orthografie.
Die nichtssagende deutsche Titelfassung findet in der Buchgestaltung, den fehlerhaften Werktiteln und der schludrigen Gestaltung des Personenregisters bedauerlicherweise ihre Entsprechung. Auch das Sterbedatum von Richard Strauss scheinen Autor und Verlag nicht näher überprüft zu haben.
Daniel Barenboim, künstlerischer Leiter und Mitinitiator des West-Eastern Divan Orchestra, das Said zu Recht so am Herzen lag, konstatiert in seinem fast hymnischen Vorwort, gewisse Kritiker hätten die Fähigkeit verlernt, "unvoreingenommen zuzuhören", weshalb sie sich eine "unverrückbare Meinung von der 'richtigen' Interpretation eines bestimmten Werks gebildet haben und daher nur günstige oder nachteilige Vergleiche anzustellen vermögen zwischen der aktuellen Darbietung und den eigenen Vorurteilen, denen sie verfallen sind".
Mit dieser Wendung hat Barenboim das Problematische an Saids uneinheitlicher, stutzig machender Textsammlung so unfreiwillig wie treffend auf den Punkt gebracht.
Jens Rosteck
© KULTURAUSTAUSCH I / 2011 - Zeitschrift für internationale Perspektiven
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de