Ein Schritt in Richtung Demokratie
Im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen Anfang des Jahres scheint das Engagement der Iraker diesmal erheblich stärker zu sein: Um die 275 Sitze des Parlaments bewerben sich allein 226 politische Gruppierungen und Parteien, mit insgesamt mindestens 7000 Kandidaten. Die Plakatwände sind voll, das Fernsehen strahlt teure Werbespots aus und die Besitzer von Mobiltelefonen werden per SMS umworben.
Fast könnte man meinen, George W. Bush habe Recht, wenn er von einem wichtigen Wendepunkt auf dem Weg zu einer irakischen Demokratie spricht.
Wenn da nicht unverändert die Drohung von El-Kaida und anderen terroristischen Gruppen im Raum stünde, die Wahlen als westliches und anti-islamisches Teufelswerk zu bekämpfen.
Die Bedenken der Sunniten
Ähnliches hatten die Terrorgruppen bereits bei den vorigen Wahlen verkündet, aber die Iraker ließen sich nicht beirren und nahmen daran teil. Nur die Sunniten enthielten sich weitgehend. Entweder, weil sie unter massivem Druck der Bewaffneten standen oder auch, weil sie selbst nicht an den ordnungsgemäßen Verlauf der Wahlen glaubten.
Sowohl bei den letzten Parlamentswahlen als auch bei der Abstimmung über die Verfassung fürchteten viele Sunniten noch, dass sie nun endgültig zur belanglosen Minderheit reduziert und in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwinden würden.
Feste Anzahl von Mandaten
Spätestens nach dem Verfassungsreferendum hat sich dies aber geändert: Heute treten sunnitische Gruppen selbstbewusster an. Ein Grund hierfür ist, dass das Land heute in Wahlkreise aufgeteilt ist und nicht mehr, wie am 30. Januar, aus einem einzigen Wahlkreis besteht.
Für jeden Wahlkreis ist jetzt eine feste Anzahl von Mandaten festgelegt – was den Einzug sunnitischer Abgeordneter aus den sunnitischen Wahlkreisen garantiert.
Verschiedene sunnitische Gruppen haben sich inzwischen zur "Irakischen Eintracht" zusammengeschlossen, die wiederum von anderen Gruppierungen unterstützt wird – bis hin zu den Moslembrüdern.
Keine offene Unterstützung von al-Sistani
Wahlsieger werden aber nicht die Sunniten, sondern die Schiiten werden, die immerhin gut 60 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sunniten und Kurden haben jeweils einen Anteil von höchstens 20 Prozent. Die Schiiten treten mit einer großen Liste an, der "Vereinigten Irakischen Koalition" - oder der "Liste 555", wie sie sich heute nennt.
Die setzt sich aus 18 überwiegend konservativen schiitischen Gruppen zusammen und hat entgegen allen Erwartungen seit den letzten Parlamentswahlen überlebt.
Im Gegensatz zu den letzten Wahlen wird die "Koalition" aber nicht mehr so offen von Großayatollah Ali Sistani unterstützt, der diesmal nur noch zum Urnengang rät, sich aber weder für die eine noch die andere Liste einspannen lässt. Ein Grund hierfür könnte sein, dass der junge und radikale Moqtada el Sadr sich der Koalition angeschlossen hat.
Koalitionspartner
Andere schiitische Gruppen sind die des ehemaligen Interims-Premiers Iyad Allawi und die des früheren CIA-Lieblings Ahmad Chalabi. Das sind weltlich-schiitische Gruppen, deren Führer besonders im Exil aktiv waren und die jetzt sicherlich keinen großen Stimmanteil auf sich werden vereinen können.
Trotzdem geben sich ihre Spitzenkandidaten zuversichtlich: Wenn es dem gegenwärtigen Premier Ibrahim Jaafari nicht gelingt, eine Zweidrittelmehrheit zu erringen, dann wird er auf Koalitionspartner angewiesen sein und diese werden dann ihre Forderungen hochschrauben können.
Optimismus bei den Kurden
Ohne große Zukunftssorgen gehen die Kurden in die Wahl: Die beiden – in der Vergangenheit immer wieder miteinander verfeindeten – Parteien "Demokratische Partei Kurdistans" und "Patriotische Union Kurdistans" treten weiterhin mit einer Einheitsliste auf.
Sie können sicher sein, dass sie, gefördert durch die Verfassung und die neuen Wahlkreise, auch weiterhin eine wichtige Rolle im Irak spielen werden.
Gegner der Wahlen argumentieren unverändert, dass es unter fremder Besatzung keine freien Wahlen geben könne. Moqtada el Sadr polemisiert im Wahlkampf ebenfalls gegen die Besatzer.
Die meisten Vertreter der größeren Parteien sind jedoch realistisch genug einzusehen, dass es ohne die Besatzung nie zu den Wahlen gekommen wäre und dass eine Normalisierung über den Weg von Wahlen der beste Weg ist, die Besatzer eines Tages zu bitten, das Land wieder zu verlassen.
Strategien der Terroristen
"Normalisierung" aber ist weiterhin ein Reizwort in den Ohren der Terroristen und der Aufständischen. Sie haben angekündigt, die Wahlen zu stören - Grund genug für die Behörden, wieder einmal strikteste Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen.
So dürfen schon seit Tagen keine nicht-irakischen Araber mehr in den Irak einreisen, nächtliche Ausgehsperren wurden verlängert, längere Überlandreisen verboten; die Kontrollen in der Nähe von Wahllokalen sind erheblich verstärkt worden, ebenso der Schutz für Kandidaten und Politiker.
Während des von schwerem Terror begleiteten Wahlkampfes sind allein in den vergangenen zwei Wochen mehr als ein Dutzend Iraker umgekommen, die mit der Liste Iyad Allawis und mit der kurdischen Einheitsliste liiert waren.
Peter Philipp
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005
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