Getrennte oder vereinte Welten?
Die Losung „der Islam ist Religion und Staat zugleich“ hat eine Vielzahl von Kontroversen und Debatten ausgelöst. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob es sich dabei um eine moderne Idee handelt. Dazu existieren zwei grundsätzliche Sichtweisen: Die erste lautet, es handele sich bei dieser Vorstellung – in ihrem Wortlaut wie auch inhaltlich – um etwas Neuartiges.
Danach ist die Idee vom Islam, der Religion und Staat umfasst, das Produkt einer Modernisierung und der Versuch, den Islam in die moderne Welt zu integrieren. In der Idee drücke sich also eine neuartige Vorstellung vom Islam aus, die eng mit der Ideologie des Islamismus und seiner Entstehungsgeschichte verbunden sei.
Die zweite Sichtweise, die vor allem in islamistischen Kreisen Anklang findet, geht davon aus, es handele sich um eine Idee, die bereits in den Anfängen des Islam vorhanden war. Lediglich die Art der Formulierung sei neu.
In Bezug auf die Glaubensinhalte war der Islam immer schon Religion und Staat zugleich. Ich möchte den Ursprung des Zwists zwischen den beiden Sichtweisen verstehen. Geht es dabei um unterschiedliche Auffassungen vom Islam an sich? Oder um die Bedeutung der Wörter, derer wir uns bedienen?
Anders gefragt: Haben wir konträre Meinungen über das Wesen des Islam oder verstehen wir etwas Unterschiedliches, wenn wir von „Staat“ und von „Religion“ sprechen?
Unter den Vertretern der ersten Position gibt es wiederum zwei unterschiedliche Richtungen: Die eine vertritt die Ansicht, dass der Islam nur Religion sei und keinerlei politischen Inhalt besitze. So gesehen, wäre alles Politische reine gesellschaftliche Praxis ohne jegliche religiöse Dimension.
Als Vorläufer dieser Position gilt der ägyptische Religionsgelehrte Ali Abdel Raziq mit seinem 1925 erschienenen Werk „Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft“. Meiner Ansicht nach lässt sich diese Position nur schwer vertreten.
Zum einen passt sie nicht mit unserem Wissensstand über die Geschichte des Islam zusammen, zum anderen steuert sie nichts zur Debatte über die Modernität der Losung „der Islam ist Religion und Staat zugleich“ bei. Vielmehr blendet sie jegliche politische Dimension des Islam aus. Sie versteht ihn als eine Religion, die den Glauben auf kultische Handlungen reduziert. Die Beziehungen der Menschen untereinander stehen nach diesem Verständnis außerhalb der Religion.
Rigoros, repressiv und omnipräsent
Es gibt aber noch eine andere Position unter jenen, die den Satz “der Islam umfasst Religion und Staat“ für eine These der Moderne halten. Sie wollen die politische Dimension des Islam – als einer in historischen Kontexten praktizierten Religion – nicht ausblenden, halten aber trotzdem die Idee vom „Islam als Religion und Staat zugleich“ für eine moderne Neuerung.
Genau da setzt die Debatte über die Frage an, was unter „Staat“ zu verstehen ist. Der Staat ist eine Institution, die auf ihrem Territorium das Gewaltmonopol innehat. Das umfasst auch das Machtmonopol, das überhaupt erst Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Gewaltmonopols ist.
Unser Staatsbegriff ist eng an ein Territorium (den Nationalstaat) gekoppelt, das exklusiv das Gebiet beschreibt, in dem das Staatsvolk lebt. Der Staat besitzt dort kraft seines Rechts das Gewaltmonopol und demzufolge auch das Recht auf Herrschaft. Das beinhaltet auch ein Monopol auf Rechtsprechung und Legislative sowie auf die Definition des Allgemeinwohls und des öffentlichen Rechts. Ein solcher Staatsbegriff ist aber eine moderne Vorstellung und hat seine Wurzeln in der Zeit des Absolutismus in Europa.
Der moderne Staat unterscheidet sich in fast allen diesen Elementen von seinen Vorläufern in der Geschichte. Historisch gesehen, kannte der Staat keine Vorstellung von Territorium oder Nation. Die Herrschaft des „Staates“ erstreckte sich über einzelne Landstriche, die sich seiner Macht unterwarfen.
Dabei forderten die staatlichen Gebilde keine Gesetzgebungs- und Rechtsfindungskompetenz ein, sondern ließen den lokalen Gesellschaften in der Regel ihre gewohnte Praxis. Selbst wenn es zur Übernahme einer Rechtsordnung kam, wie etwa der islamischen Scharia, blieb deren Umsetzung Sache der jeweiligen Gesellschaften. Denn die Staaten früherer Zeiten wahrten die natürliche Ordnung der Dinge. Im Vergleich dazu wirkt der moderne Staat geradezu rigoros, omnipräsent und repressiv.Der Staat und seine historischen Vorläufer
Mit dem Thema „Staat“ in der islamischen Geschichte hat sich der US-amerikanische Islamwissenschaftler Wael Hallaq intensiv beschäftigt. Als Kritiker der Moderne und der Globalisierung wendet er sich gegen die Vorstellung von einem islamischen Staat und verwendet die Bezeichnung „Staat“ ausschließlich für einen modernen Staat.
Wenn er hingegen prä-moderne Staatsformen thematisiert, spricht er von „Herrschaftssystemen“. Ebenso verfährt der Soziologe Armando Salvatore in seinem Projekt „Sociology of Islam“. Er verwendet zum Beispiel den Ausdruck „Staatensystem“ für die historischen Vorläufer des modernen Staates.
Wer die These vertritt, die Idee vom Islam, der Staat und Religion umfasst, sei eine moderne Vorstellung, beruft sich also darauf, dass der Begriff „Staat“ moderner Natur ist. Im traditionellen politischen Denken des Islam gebe es dazu keine Entsprechung.
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Die Verfechter der Idee, die Vorstellung von einem Islam, der Staat und Religion zugleich ist, sei bereits ursprünglich im Islam angelegt, setzen den Staatsbegriff nicht in einen historischen Kontext. Sie verwenden den Begriff „Staat“ in einem weit gefassten, ja fast schon ausufernden Sinne, so dass „Staat“ bei ihnen auch für das Kalifat der islamischen Frühzeit stehen kann. Sie betrachten jedwede Herrschaftspraxis als „Staat“, ungeachtet der historischen Ausdifferenzierungen zwischen ganz unterschiedlichen Herrschaftsformen.
Die Gemeindeordnung von Medina im frühen 7. Jahrhundert n. Chr. konstituiert für sie gleichermaßen einen Staat wie der absolutistische Staat von Ludwig XIV. oder die moderne französische Republik. Sie rücken also klassischen Texten mit zeitgenössischen Begrifflichkeiten zu Leibe, ohne sich um die historische Prägung der Begriffe zu scheren.
Eine solche erweiterte Verwendung des Staatsbegriffs ist problematisch, weil hier grundverschiedene, moderne und vormoderne, Vorstellungen vom Staat zusammengewürfelt werden. Diese Vermischung unterschiedlicher Vorstellungen begegnet einem beispielsweise in Äußerungen wie der des verstorbenen Anführers der ägyptischen Muslimbrüder, Mohammed Mahdi Akef, auch ein malaysischer Muslim könne Herrscher Ägyptens werden.
Akef bewegt sich damit innerhalb eines vormodernen Vorstellungshorizonts, in dem „Staat“ noch nicht mit Territorium, Nation und Staatsvolk gleichgesetzt wurde. Es ist der Horizont des traditionellen islamischen Herrschaftssystems, welches ja nicht territorial definiert ist.
Denn das Territorium des Islam umfasst jedes Land, das von einem muslimischen Herrscher regiert wird und in dem die Scharia gilt. Zum „Volk“ des Islam, zur Umma, gehören alle Muslime, unabhängig von ihrer Abstammung oder Herkunft – allerdings im Rahmen eines streng hierarchischen Systems, das die Muslime zu Mitgliedern der Umma macht, während etwa die Kopten, deren Vorväter seit jeher in Ägypten gelebt haben, außerhalb der Umma des Islam stehen. Diese vormoderne Vorstellung finden wir natürlich auch bei den Osmanen und den Mameluken. Sie steht in einem fundamentalen Gegensatz zur Idee des modernen Staates.
Die Machtfülle des modernen Staates
Ist es möglich, mit einer islamwissenschaftlich basierten Herangehensweise eine Vermessung des modernen Staates vorzunehmen, indem man die historischen Ausprägungen islamischer Herrschaftspraxis zum Ausgangspunkt nimmt?
Um diese Frage zu beantworten, muss man sich des substantiellen Unterschieds zwischen dem modernen Staat und den früheren Herrschaftssystemen bewusst sein. Erst dann kann durch wissenschaftliche Auslegung der Quellen eine solche Vermessung erfolgen.
Wer darauf pocht, der Islam sei Religion und Staat zugleich, nimmt aber jenen konzeptuellen Unterschied zwischen dem modernen Staat und den Herrschaftsformen früherer Zeiten gar nicht zur Kenntnis.
Politische Parteien, die heute diese Position vertreten, gehören ganz und gar zur Welt des modernen Staates. In diesem Staat betreiben sie ihre Politik, streben nach Herrschaft und danach, sich den Staat zu Diensten zu machen – mit all seiner Autorität, seiner Machtfülle und seiner Fähigkeit, mehr als irgendeine vorangegangene Staatsform in das Leben der Menschen einzugreifen und es zu kontrollieren.
Kurz gesagt, die Parole, „der Islam ist Religion und Staat zugleich“, ist tatsächlich ein Produkt der Moderne und Ausdruck eines neuen Islam-Verständnisses im Kontext der modernen Welt. Die Idee von einem Islam, der Religion und Politik umfasst, verweist auf den Staat in seiner heutigen Gestalt. Das bedeutet jedoch nicht, dass es im Verlauf der islamischen Geschichte keine eigene politische Praxis gab und dass er keine Herrschaftsformen mit religiöser Komponente hervorgebracht hätte.
Wer dagegen die Ursprünglichkeit der Idee verteidigt, bedient sich eines weit gefassten Staatsbegriffs und blendet aus, dass zwischen dem modernen Staat und seinen Vorläufern ein fundamentaler Unterschied besteht, ja dass die beiden sogar in einem offenen Widerspruch zueinander stehen können.
Für eine angemessene Debatte darüber, ob der Islam Religion und Staat in einem ist, müssen wir uns zuallererst die Frage stellen: Was meinen wir eigentlich mit den Wörtern „Religion“ und „Staat“?
Nur durch Klärung dieser Begrifflichkeiten können wir uns von Missverständnissen freimachen. Denn häufig glauben wir, von ein und derselben Sache zu sprechen, meinen dabei aber ganz unterschiedliche Dinge.
Morris Ayek
© Qantara.de 2020
Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez