Konfliktreiche Interessensvielfalt

Überschattet von Anschlägen mit fast 40 Toten haben die Iraker ein neues Parlament gewählt. Von einer gelungenen Reifeprüfung zu sprechen, ist aber noch zu früh, meint Rainer Sollich in seinem Kommentar.

Polizist während der Stimmabgabe bei der Parlamentswahl im Irak; Foto: AP
Tauziehen um die politische Macht im Staat: Nach der Parlamentswahl im Irak stehen jetzt langwierige und komplizierte Koalitionsverhandlungen an.

​​ Die wichtigste Botschaft dieser Wahlen lautet: Die Iraker haben sich nicht einschüchtern lassen. Trotz Mörserattacken und Bombenanschlägen mit dutzenden Toten drängten zahlreiche Bürger in die Wahlkabinen.

Sie haben damit Mut bewiesen und ein deutliches Zeichen gegen die Terroristen und Gegner einer nationalen Aussöhnung gesetzt. Das verdient großen Respekt und zeigt deutlich: Die meisten Iraker sehnen sich nach Sicherheit und Stabilität. Sie wollen, dass es endlich vorwärts geht. Und sie unterstützen dabei im Grundsatz sehr wohl das Prinzip des demokratischen Wettbewerbs.

Dennoch wäre es verfrüht, von einer gelungenen Reifeprüfung zu sprechen. Die eigentlichen Herausforderungen stehen erst noch bevor. Die offizielle Verkündung des Wahlergebnisses dürfte mindestens eine Woche, wenn nicht länger auf sich warten lassen.

Es ist unklar, ob das Ergebnis bei allen maßgeblichen Politikern und Gruppen auf Akzeptanz stoßen wird. Und spätere Koalitionsverhandlungen zwischen den Parteienbündnissen der Schiiten, Sunniten, Kurden und gemischten Listen könnten angesichts der schier unübersichtlichen Interessenvielfalt zäh und konfliktreich werden. Und schlimmstenfalls sogar zu neuen größeren Gewaltausbrüchen führen.

Tiefe Gräben innerhalb der Bevölkerung

Denn sieben Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins und angesichts mehrjähriger Gewaltexzesse sind zahlreiche grundlegende Probleme weiterhin ungelöst, wie etwa die Aufteilung der Ölressourcen zwischen den Bevölkerungsgruppen oder der Status der ölreichen Stadt Kirkuk.

Wahlplakate in einer Straße in Bagdad
Ein deutliches Zeichen gegen die Terroristen und Gegner einer nationalen Aussöhnung: die Wahlbeteiligung lag nach Angaben der Wahlkommission landesweit bei beachtlichen 60 Prozent.

​​ Die pure Existenz gemischter Listen und die Versöhnungs-Rhetorik mehrerer Kandidaten bei diesen Wahlen können auch nicht über die anhaltend tiefen Gräben zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen hinwegtäuschen. Das Land hat nie die Chance gehabt, eine demokratische Kultur heranreifen zu lassen, sondern wurde 2003 von einem Tag auf den anderen in gänzlich neue Verhältnisse hineingeworfen.

Wer immer die künftige Regierung anführen wird, hat eine Mammutaufgabe zu bewältigen. Eine der größten Herausforderungen wird sein, die Sunniten als zweitstärkste Bevölkerungsgruppe stärker in die politische Verantwortung einzubinden.

Sie waren unter Saddam privilegiert und sehen sich seit dessen Sturz als Verlierer der neuen Zeit – das spielt nach wie vor terroristischen Gruppen in die Hände. Zudem ist es bitter notwendig, die von Gewalt und Vertreibung bedrohten kleineren Minderheiten wie Christen und Yesiden besser zu schützen.

Unter Druck

Zahlreiche widersprüchliche Macht- und Einflussinteressen müssen miteinander versöhnt werden. Und quer durch alle Regionen erwarten die Menschen spürbare Verbesserungen im Alltag – angefangen beim persönlichen Lebensstandard und den anhaltenden Mängeln bei der Wasser- und Elektrizitätsversorgung bis hin zum wichtigsten Thema, der Sicherheit.

Die Zeit drängt. Bereits in fünfeinhalb Monaten soll die Hälfte der noch 100.000 US-Soldaten das Land verlassen haben, der Rest bis Ende 2011. Die künftige Regierung wäre spätestens dann völlig allein für die Sicherheit im Land verantwortlich.

Der Druck, nun möglichst schnell für klare Verhältnisse zu sorgen, ist ebenso groß wie riskant: Jede größere Gruppe, die sich im neuen Machtgefüge nicht ausreichend berücksichtigt fühlt, wäre ein Sicherheitsrisiko und eine Bürde für die Zukunft des Landes.

Rainer Sollich

© Deutsche Welle 2010

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