Strategiewandel für eine neue Sicherheitsarchitektur
Der britische Außenminister David Miliband war es, der auf einer NATO-Sitzung in Edinburgh im November 2009 anmahnte, dass eine umfassende Strategie für den Konflikt in Afghanistan benötigt wird, um eine politische Lösung zu erreichen. Eine solche Strategie erlaube es den NATO-Truppen, das Land zu verlassen, ohne in Zukunft zurückkehren zu müssen.
Miliband war der erste hochrangige westliche Politiker, der aussprach, worin die grundlegenden Versäumnisse der westlichen Strategie in Afghanistan liegen. Gleiches gilt jedoch auch für den Konflikt im Irak, der mehr und mehr aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit und der westlichen Politik insgesamt verschwunden ist.
Der Irak schafft es heute nur noch in die Schlagzeilen, wenn es mal wieder ein Blutbad mit Hunderten Toten gegeben hat. Doch ein Ausweg aus dieser verfahrenen Situation im Irak bleibt eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit, nicht nur für die strategischen Interessen in der Golfregion, sondern auch für das Schicksal des Nahen Ostens insgesamt, das seit der US-geführten Invasion im Jahr 2003 ungewisser ist denn je zuvor.
"Irakisierung" und "politische Versöhnung"
Dabei geht es heute nicht um einen überhasteten Abzug, der die Situation im Land außer Acht lässt, sondern um eine nüchterne Analyse der bisherigen Strategien. Das oberste Ziel des Westens im Irak besteht noch immer in der Stabilisierung der Sicherheitslage als Vorbedingung eines letztendlichen Abzugs. Diese Strategie ruht auf zwei Säulen:
Die "Irakisierung", unter der die Ausbildung einheimischer Sicherheitskräfte verstanden wird, die das bestehende Sicherheitsvakuum schließen sollen, das durch den schrittweisen Rückzug der westlichen Truppen entsteht; und die "politische Versöhnung", die der Westen hofft, zwischen den sich bekämpfenden Gruppen und Splittergruppen im Land vermitteln zu können.
Beides sind notwendige Voraussetzungen jeder Strategie der Alliierten, und doch ist nicht zu übersehen, dass Fortschritte auf beiden Feldern bisher sehr langsam erreicht wurden. Die jüngste Zunahme der Gewalt spricht außerdem dafür, dass die Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage seit der Aufstockung der US-Truppen 2007 nicht sehr nachhaltig war.
Aufmerksame Beobachter der politischen Entwicklungen im Land warnen seit einiger Zeit, dass, sobald die alliierten Truppen das Land vollständig verlassen haben, die Kämpfe wieder aufflammen würden und der Bürgerkrieg dort wieder beginnen könnte, wo er einmal beendet war. Doch deutet derzeit nichts darauf hin, dass dieser Warnung viel Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Der regionale Kontext des Konflikts
Das Hauptproblem besteht darin, dass der gerade dargestellte zweigleisige Ansatz zum Scheitern verurteilt ist, da er den Irak nur isoliert betrachtet und den regionalen Kontext des Konflikts weitgehend außer Acht lässt. Dabei ist eine tatsächliche und nachhaltige Stabilisierung des Irak nur dann zu erreichen, wenn die Strategie dazu eingebettet ist in einen umfassenderen Rahmen, der die ganze Region mit einschließt.
Deshalb bedarf es ernsthafter Anstrengungen zu einer umfassenderen regionalen Lösung, die einerseits darauf ausgerichtet ist, die Lage im Irak zu stabilisieren, jedoch auch verhindert, dass der anhaltende Konflikt der rivalisierenden Gruppen und die Instabilität im Lande auf andere Länder übergreift.
Der einzige Versuch, der bisher in diese Richtung unternommen wurde, war der halbherzige Vorstoß einiger Mitarbeiter der Bush-Regierung, eine neue regionale Balance zwischen den Schiiten und Sunniten zu erreichen, die die sehr unstabile Machtverteilung, die zwischen dem Irak und Iran bis 2003 bestand, ersetzen sollte.
Die ideologische Herausforderung des schiitischen Iran
Indem sie den politischen Aufstieg des Iran in den Kontext eines erstarkenden "schiitischen Halbmondes" (hierunter werden die Länder gefasst, die eine schiitische Mehrheit oder einen hohen Anteil von Schiiten in ihrer Bevölkerung haben – darunter nicht nur der Iran und der Irak, sondern auch Bahrain, der Libanon und Aserbaidschan; Anmerkung des Übersetzers) stellten, hofften einige US-amerikanische Entscheidungsträger, die arabisch-sunnitischen Staaten in die Allianz einzubinden und die wahrgenommene Bedrohung durch den Iran zu nutzen, um die Fokussierung auf den israelisch-palästinensischen Konflikt zu beenden.
Auch wenn dieser Gedankengang durchaus in die richtige Richtung wies, krankte er doch von Beginn an daran, dass die arabische Öffentlichkeit, ganz egal, wie sehr diese die ideologische Herausforderung durch Iran fürchtet, eine offene Allianz ihrer Regierungen mit dem verhassten Israel weiterhin ablehnt.
Sehr viel vernünftigere Vorschläge wurden hingegen 2006 von der US Iraq Study Group und 2007 von ihrem britischen Pendant, der British Iraq Commission, gemacht. Auch wenn diese bereits einige Jahre alt sind, haben ihre Anregungen nichts an Aktualität eingebüßt.
Alle Betroffenen an den Verhandlungstisch
Beide Ausschüsse befürworteten ernsthafte diplomatische Anstrengungen, um alle diejenigen, die ein Interesse an der territorialen Integrität des Irak haben, an den Verhandlungstisch zu bekommen.
Sollte das Land nämlich eines Tages doch auseinanderbrechen – ein noch immer nicht gänzlich auszuschließendes Szenario – so könnte die ganze Region in Anarchie versinken. Und auch ein Krieg, in den der ganze Nahe Osten verwickelt wird, ist nicht unmöglich.
Bis auf den Iran, der sich vermutlich freuen dürfte über seinen Einfluss auf einen möglichen schiitischen Ministaat im Süden des Irak, ist davon auszugehen, dass die meisten Regierungen in der Region das Auseinanderbrechen des Irak als eine sehr beunruhigende Aussicht empfinden.
Abgesehen also vom Iran haben die Nachbarn des Irak, nämlich die Türkei, Jordanien, Syrien und Saudi-Arabien, ein klares Interesse, ein Auseinanderbrechen des Landes zu verhindern, wie auch Israel, Ägypten und die sunnitischen Staaten am Golf – mögen auch die Gründe für dieses Interesse unterschiedlicher Natur sein: sei es, die Entstehung eines unabhängigen Kurdenstaates und ein Übergreifen der sektiererischen Gewalt auf andere Länder zu verhindern oder sei es, den wachsenden Einfluss Irans innerhalb der Region einzudämmen.
Sicherheitskonferenz für die Region
Angesichts dieser gemeinsamen Interessen an der Stabilität des Irak könnte eine regionale Sicherheitskonferenz, einberufen von den USA und ihren europäischen Alliierten, nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Stabilisierung des Landes leisten, sondern auch die Basis für die Schaffung einer völlig neuen Sicherheitsarchitektur für die ganze Region legen, die den Irak ebenso mit einbezieht wie die Golfstaaten, Syrien, Jordanien, Ägypten, die Türkei und sogar Israel.
Solch ein System, sollte es denn auf den Weg gebracht werden können, könnte in zweifacher Hinsicht von Nutzen sein: zum einen zur Stabilisierung des Irak und zur Garantie seiner territorialen Integrität, zum anderen aber auch zur Eindämmung der iranischen Macht und seines Einflusses.
Die westlichen Regierungen wären also gut beraten, diese historische Chance nicht verstreichen zu lassen, die sich dadurch ergibt, dass die Sicherheitsinteressen der Nahoststaaten so nah beieinander liegen wie lange nicht; gefordert ist nun eine entschlossene diplomatische Initiative für eine regionale Lösung des Irak-Konflikts.
Chris Luenen
© Qantara.de 2010
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