Kein Königsweg in Sicht

Der schwindende politische Einfluss Saudi-Arabiens hat zu einem wachsenden Gefühl des nationalen Niedergangs beigetragen. Die innenpolitischen Reformbemühungen von König Abdallah haben an Dynamik verloren. Hintergründe von Tarek Osman

Von Tarek Osman

Anfang der 1970er Jahre soll König Faisal von Saudi-Arabien hochrangigen Mitgliedern der königlichen Familie seine Befürchtung anvertraut haben, dass in seinem Land, das innerhalb einer einzigen Generation von "Kamelen auf Cadillacs umgestiegen ist, die kommende Generation wieder auf Kamelen reiten könnte". Seine Warnung scheint angebrachter denn je.

Saudi-Arabien, das seit langem an einer der rigidesten Gesellschaftsordnungen der arabischen Welt festhält, befindet sich im Wandel. Seine Beziehungen zum Westen – insbesondere zu den Vereinigten Staaten – haben unter den Turbulenzen gelitten, die der Arabische Frühling im Nahen Osten und Nordafrika ausgelöst hat. Unterdessen hat sich eine Gruppe von Aktivistinnen das Fahrverbot für Frauen im Königreich bewusst ignoriert und damit das jüngste Zeichen für eine innenpolitische Verweigerung im Land gesetzt.

Saudi-Arabien ist zwar nach wie vor die größte arabische Volkswirtschaft, der weltweit führende Erdölproduzent und -exporteur und der Hüter des sunnitischen Islam, doch in den letzten Jahren hat das Land erheblich an politischem Einfluss verloren.

Leere Paläste, fehlende Strategien

Von Anfang der 1980er bis Mitte der 2000er Jahre war Saudi-Arabien der Koordinator der panarabischen Politik, und die politische Führung der gesamten arabischen Welt traf in den Palästen von Riad und Dschidda zusammen.

Doch seither bleiben die Empfangsräume eher ungenutzt. Qatar – mit seinem scheinbar unerschöpflichen Reichtum und einer umfassenden Auslands-, Investitions- und Medienstrategie – hat Saudi-Arabien als entscheidenden Vermittler in fast allen Konflikten im Nahen Osten abgelöst.

Jemen-Geberkonferenz in Riad vom 23.5.2012; Foto: dapd
Generöse Geste für regionale Verbündete im Kampf gegen Houthi-Rebellen und iranische Einflüsse: Zum Auftakt der Jemen-Geberkonferenz Ende Mai 2012 in der saudischen Haupstadt Riad versprach Außenminister al-Faisal 3,25 Milliarden Dollar Hilfe für das Nachbarland.

Der schwindende politische Einfluss Saudi-Arabiens hat zu einem wachsenden Gefühl des nationalen Niedergangs beigetragen. Die Reformbemühungen von König Abdallah – insbesondere jene, die darauf abzielen, die Macht des ultrakonservativen wahhabitisch-salafitischen religiösen Establishments einzudämmen – haben an Kraft verloren und der Tod von zwei Kronprinzen hat den Machttransfer zwischen den Generationen verkompliziert.

Während es der saudischen Führung gelungen ist, die Unterstützung der Mittelschicht zu kaufen, indem sie einen wesentlichen Teil der Erdöleinnahmen in gezielte Sozial- und Kreditvergabeprogramme fließen lässt, ist Armut weit verbreitet und es bestehen nach wie vor gravierende Einkommensunterschiede. Schiitische Muslime in der ölreichen östlichen Provinz des Landes haben sich dem Demonstrationsverbot gegen das Regime wiederholt widersetzt. Und Saudi-Arabiens Offensive gegen die schiitischen Houthi-Rebellen im Jemen hat sich als langwieriger und kostspieliger erwiesen als erwartet.

Furcht vor innovativen Formen des politischen Islam

Vor diesem Hintergrund steht die saudische Führung einer Stärkung der Bürgerrechte und Störung der arabischen Ordnung, die in den vergangenen drei Jahrzehnten von ihr dominiert wurde, außerordentlich argwöhnisch gegenüber. Für den saudischen Wahhabismus, der die absolute Macht der königlichen Familie religiös legitimiert, stellen innovative Formen des politischen Islam, die Legitimität an echter Volksvertretung festmachen, eine strategische Bedrohung dar.

Im vergangenen Jahr hat sich die saudische Familie vielen dieser Herausforderungen gewidmet. König Abdallah hat bedeutende personelle Veränderungen innerhalb des Verteidigungs-, Innen- und Außenministeriums und im staatlichen Geheimdienst vorgenommen und zwei erfahrenen Prinzen weitreichende Befugnisse erteilt – Bandar bin Sultan, der sein Land zwanzig Jahre lang als Botschafter in den USA vertreten hat und Miteb bin Abdullah, seinem Sohn und langjährigen Kommandeur der Nationalgarde.

Die Regierung hat sich außerdem um ausländische Investitionen und wirtschaftliche Diversifizierung bemüht. Und einige Mitglieder der saudischen Familie gehen – wenn auch vorsichtig – auf zivilgesellschaftliche Akteure zu und versuchen sie in einen Dialog über die Zukunft des Landes einzubeziehen.

Saudi-Arabiens geostrategische Ziele

Um den Einfluss des Iran im östlichen Mittelmeerraum zu bekämpfen, hat Saudi-Arabien zudem die Unterstützung für seine Verbündeten in Irak, Jordanien und Libanon verstärkt und verantwortet praktisch die Finanzierung, Bewaffnung und Führung der syrischen Opposition und Rebellengruppen.

Ägyptens Ex-Präsident Mohammed Mursi; Foto: Getty Images
Furcht vor dem Aufstieg des politischen Islams der Muslimbrüder: "Saudi-Arabien hat dazu beigetragen, den Aufstieg des politischen Islam in Nordafrika einzudämmen, unter anderem durch die Unterstützung des Sturzes des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi", schreibt Tarek Osman.

Saudi-Arabien hat dazu beigetragen, den Aufstieg des politischen Islam in Nordafrika einzudämmen, unter anderem durch die Unterstützung des Sturzes des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi. Und durch eine Kombination aus positiven und negativen Anreizen hat es die Bedrohung durch die Houthi-Rebellen in Jemen aufgehalten.

Doch keine dieser Strategien nimmt sich der grundlegenden Herausforderung an, der sich das Königreich gegenübersieht – nämlich der allmählichen Erosion seines Reichtums (tatsächlich wird erwartet, dass Saudi-Arabien bis 2030 zum Netto-Energie-Importeur wird).

Angesichts der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit vieler Wirtschaftssektoren und der Unzulänglichkeit des Bildungssystems wird die saudische Bevölkerung – von der 70 Prozent jünger als 35 Jahre alt ist – in den kommenden Jahren mit drastisch steigender Arbeitslosigkeit konfrontiert sein.

Vertane Chance

Viele Saudis haben das Gefühl einer vertanen Chance: Obwohl das Land auf einem der reichsten Erdölvorkommen aller Zeiten sitzt, ist es Saudi-Arabien nicht gelungen sich zu einer fortschrittlichen Volkswirtschaft zu entwickeln. Und Saudi-Arabiens breite Mittelschicht dürfte auf sinkenden Wohlstand mit Forderungen nach einem repräsentativeren politischen System reagieren.

Das Problem ist, dass die offensichtlichen Herausforderungen, mit denen Saudi-Arabien konfrontiert ist, einen Zusammenhalt in den höchsten Kreisen der Staatsspitze erfordern, der nicht vorhanden ist. Der Journalist Christian Caryl hat es so formuliert: "…zu meinen, dass historische oder wirtschaftliche Voraussetzungen ein Land prädisponieren einen bestimmten Weg zu beschreiten, heißt nicht, dass seine Politiker zwangsläufig entscheiden werden, diesen auch zu beschreiten."

Öl-Raffinerie in Saudi-Arabien; Foto: dpa
Vertane Chance: : Obwohl das Land auf einem der reichsten Erdölvorkommen aller Zeiten sitzt, ist es Saudi-Arabien nicht gelungen sich zu einer fortschrittlichen Volkswirtschaft zu entwickeln.

Das anhaltende Ausbleiben entschlossener Maßnahmen könnte Saudi-Arabien unversehens dem unwiderruflichen Verfall entgegengehen lassen. In einem solchen Szenario würde die Konjunktur allmählich schwächer, was es der königlichen Familie erschweren würde, weiterhin die Unterstützung der Mittelschicht zu kaufen, während Rebellengruppen im Osten und Süden in die Lage versetzt würden, die Autorität der Regierung zu untergraben. Dies könnte dazu führen, dass die wahhabitische religiöse und politische Doktrin unter den jungen Menschen an Einfluss verliert und Machtkämpfe innerhalb des Regimes entfacht werden.

Drohender staatlicher Niedergang

Letzten Endes könnte sogar Abd al-Aziz ibn Sauds Einigung des Königreichs Ende der 1920er Jahre rückgängig gemacht werden und die vergangenen achtzig Jahre zur Anomalie in der langen Geschichte der Zersplitterung der Arabischen Halbinsel werden. Ein solcher Ausgang würde den Jemen und die restlichen Golfstaaten praktisch unregierbar werden lassen und zulassen, dass die Konfrontationen zwischen Sunniten und Schiiten, die gegenwärtig in den Ländern um das östliche Mittelmeer stattfinden, in der Region eskalieren.

Es gibt allerdings noch eine weitere Möglichkeit. Die neue Generation der saudischen Führung könnte den Übergang zu einer echten konstitutionellen Monarchie einleiten, die auf einem transparenten System der Gewaltenteilung beruht. Ein repräsentativeres Regierungsmodell nebst starken wirtschaftlichen Anreizen könnte die Kreativität und Dynamik der jungen Bevölkerung freisetzen – und dabei Saudi-Arabiens Zukunft sichern.

Dieses Potential wurde in dem aktuellen Film "Das Mädchen Wadjda" aufgegriffen – saudische Frauen haben das Drehbuch verfasst, den Film produziert und Regie geführt –, in dem die Geschichte eines jungen Mädchens aus der Mittelschicht erzählt wird, die in dem Versuch ihre Fähigkeiten auszuschöpfen an gesellschaftlichen Konventionen rüttelt und Grenzen überschreitet. Wenn sie nicht Saudi-Arabiens Zukunft ist, hat das Land vielleicht gar keine Zukunft.

Tarek Osman

© Project Syndicate 2013

Tarek Osman ist Autor des Buchs "Egypt on the Brink".

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de