Kann der Libanon aus Ruinen auferstehen?

Wut im Libanon: Nach der verheerenden Explosion in Beirut hat sich der Zorn der Bevölkerung über die Regierung entladen.
Wut im Libanon: Nach der verheerenden Explosion in Beirut hat sich der Zorn der Bevölkerung über die Regierung entladen.

Die Zerstörung des Hafens von Beirut und eine Wirtschaft im freien Fall hat Rufe nach einem Ende des konfessionellen Machtproporzes im Libanon befeuert. Aber würde ein Ende dieses Systems der Machteilung zwischen Christen, Sunniten und Schiiten das Land erneuern? Oder doch eher das fragile Gleichgewicht einer gespaltenen Nation gefährden, wie John Andrews meint.

Von John Andrews

Haram Lubnan, ach was für ein armes und geschundenes Land, der Libanon! Als wären über eine Million Flüchtlinge aus dem benachbarten Syrien, eine Wirtschaft im freien Fall und die COVID-19-Pandemie nicht genug, starben nun bei der katastrophalen Zerstörung des Hafens von Beirut über 150 Menschen. Mehr als 6.000 wurden verletzt und etwa 300.000 – das sind fünf Prozent der Gesamtbevölkerung – obdachlos. Wie kann die Leidensgeschichte eines Landes beendet werden, dessen Hauptstadt einst als das „Paris des Nahen Ostens“ galt?

Leider ist die mondäne Vergangenheit längst Geschichte. Korruption, das Chaos in der Region und der Bürgerkrieg der Jahre 1975 bis 1990 haben diesen Ruf zerstört. Nach der Explosion im Hafen verhängte die unglückselige Regierung den Ausnahmezustand und sah sich dann mit Demonstranten konfrontiert, die den Slogan des Arabischen Frühlings von vor zehn Jahren skandierten: Al-sha’b yurid isqat al-nizam – „Das Volk will den Sturz des Regimes“.

Obwohl die Regierung nun zurückgetreten ist, wird die Wut der Bürger wohl weiterwachsen: Am 18. August will das Sondertribunal für den Libanon in Den Haag sein Urteil über die Ermordung von Ministerpräsident Rafik Hariri im Jahr 2005 fällen. Vier Mitglieder der Hisbollah, jener schiitischen Miliz und politischen Partei, hinter der Iran und Syrien stehen, werden dann in Den Haag in Abwesenheit für den Anschlag auf Hariris Autokolonne verurteilt. Zunächst war der Termin für die Urteilsverkündung auf den 7. August gelegt worden. „Aus Respekt für die zahllosen Opfer der furchtbaren Explosion“ in Beirut wurde er jedoch drei Tage vor dem ursprünglich geplanten Termin auf das aktuelle Datum verschoben.

Politische Spannungen werden zunehmen

Unabhängig vom Ausgang des Sondertribunals werden die politischen Spannungen im Libanon zunehmen. Die Hisbollah, von den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft, genießt unter den Schiiten breite Unterstützung. Ihre Miliz ist mächtiger als die libanesische Armee, außerdem hat sie zahlreiche Abgeordnete im Parlament.

 

 

Genauso wie die Anwesenheit palästinensischer Guerillagruppen und ihres „Staates im Staat“ ein Faktor im Bürgerkrieg war, so wird der „Staat über dem Staat“ der Hisbollah immer mehr Libanesen – und auch Ausländer – dazu bringen, das Ende eines Systems zu fordern, in dem nicht persönliche Fähigkeiten, sondern die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe politische und wirtschaftliche Macht bedeuten.

Aber ist es das, was „das Volk“ mit seinen Protestplakaten, die zur Thawra (Revolution) aufrufen, wirklich will? Der Libanon, der vor einem Jahrhundert durch das Sykes-Picot-Abkommen zwischen Großbritannien und Frankreich entstand, ist ein buntes Mosaik aus Christen, Muslimen, Drusen und anderen Volksgruppen (offiziell sind 18 religiöse Glaubensrichtungen anerkannt). 1943, als Frankreich sein Mandat über den Libanon im Rahmen des Völkerbundes beendete, schlossen die unabhängigen politischen Führer des Libanon einen ungeschriebenen „Nationalen Pakt“, wonach der Präsident des Landes ein maronitischer Christ, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Sprecher des Parlaments ein schiitischer Muslim sein sollte.

Wie es Riad al-Solh, der erste Premierminister des Libanon, ausdrückte, sollten so die „libanesischen Muslime libanesischer und die libanesischen Christen arabischer“ werden. Die Christen sollten sich vom Westen distanzieren und die Muslime von der Idee Abstand nehmen, der Libanon sei Teil einer größeren arabischen Nation.

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Christen heute in der Minderheit

Die ursprüngliche Voraussetzung war, dass Christen und Muslime zahlenmäßig mehr oder weniger gleich stark sind. Aber die letzte Volkszählung im Libanon stammt aus dem Jahr 1932, und es ist klar, dass die Christen seitdem in eine Minderheitenposition geraten sind. Wegen einer niedrigeren Geburtenrate und einer höheren Neigung zur Auswanderung (Tausende flohen während des Bürgerkriegs) stellen die Christen heute nur noch ein Drittel der libanesischen Bevölkerung.

Aber warum sollte man das System so anpassen, dass es die demographische Realität widerspiegelt, wenn dies zu weiteren Ausbrüchen konfessionell begründeter Kämpfe führen würde? Das Abkommen von Taif aus dem Jahr 1989, das den 15-jährigen Bürgerkrieg beendete, beinhaltet lediglich kosmetische Korrekturen zugunsten eines stärkeren politischen Gewichts für Muslime. Sie erhalten einen gleichen Anteil an Sitzen im Parlament wie die Christen und die Macht des muslimischen Premierministers wurde vergrößert.

Seit Langem fordern die Demonstranten im Libanon ein Ende der Machtverteilung nach Konfessionen und der Einmischung ausländischer Mächte – von den USA über Israel bis hin zu Syrien und Iran. Einziger Erfolg der Proteste war bisher, dass die in- und ausländische Verurteilung des Mordes an Rafik Hariri Syrien 2005 dazu zwang, seine Truppen abzuziehen, 29 Jahre, nachdem das Nachbarland angefangen hatte, den Libanon zu „beschützen“.

Ein Klima der Meinungsfreiheit

Paradoxerweise hat das System, gegen das sie demonstrieren, den Protestlern ein Maß an Meinungsfreiheit verliehen, das in der arabischen Welt nur allzu selten ist. Und wenn Arbeitsplätze von Protektion abhängen, könnte das Ende des Systems zu persönlichen Härten führen. In einem Experiment eines libanesischen Think Tank erklärten sich 70 Prozent der Befragten bereit, eine Petition für den Sturz des Systems zu unterschreiben. Nachdem den Teilnehmern gesagt wurde, dass ihre Namen veröffentlicht würden, fiel die Zahl auf 50 Prozent.

Der Libanon war immer schon ein fragiles Gebilde. Als ich in den 1970er Jahren in Beirut lebte, war die Stadt tatsächlich das kosmopolitische „Paris des Nahen Ostens“. Der von ausländischen Mächten befeuerte Bürgerkrieg hat die Stadt dann aber in schwer bewaffnete Bezirke aufgeteilt, in denen die im Personalausweis verzeichnete Religionszugehörigkeit über Leben und Tod entscheiden konnte.

Angesichts des hohen Bildungsniveaus und der unternehmerischen Energie der Libanesen ist es denkbar, dass das Ende des konfessionellen Systems die Zerbrechlichkeit des Landes in Stärke verwandeln könnte. Aber ich habe da so meine Zweifel.

In anderen arabischen Ländern verließen sich die religiösen Minderheiten darauf, dass Diktatoren sie beschützen. Sobald wie im Irak und in Syrien, die nationale Einheit bedroht war, ging es ihnen schlecht. Würden jene Maroniten, die anstatt einer arabischen eher eine phönizische Identität für sich beanspruchen, es akzeptieren, von einer muslimischen Mehrheit regiert zu werden? Würden die Schiiten die libanesischen Sunniten, nun durch sunnitische Flüchtlinge aus Syrien nochmal verstärkt, als Herrscher akzeptieren?

Die wirkliche Herausforderung besteht darin, die Politiker für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist beschämend, dass die Kriegsherren der 1970er und 1980er Jahre keine Staatsmänner, sondern Schutzgeld eintreibende Mafiosi geworden sind (beispielsweise bringen Stromausfälle Lieferanten von Dieselgeneratoren leichtes Geld). Es ist auch beschämend, dass selbstsüchtige Banker und eine offizielle Verweigerung dringender Wirtschafts- und Finanzreformen die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds blockiert haben.

Die Libanesen verdienen etwas Besseres. Aber nach der Katastrophe von Beirut ist die Frage, wie sie dies erreichen können, schwerer zu beantworten als je zuvor.

John Andrews

© Projekt Syndicate 2020

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

John Andrews war Herausgeber und Auslandskorrespondent des Economist und ist der Autor von "The World in Conflict. Understanding the world‘s troublespots", Verlag Economist Books, 2016