Die Welt, wie sie Al-Sisi gefällt
Die Wahl des ehemaligen Armeegenerals Abdel Fattah al-Sisi ins Präsidentenamt folgte der Tradition einer starken Rolle des Militärs in der ägyptischen Politik. Aus dieser Sicht erscheint das kurze Intermezzo im Präsidentenpalast mit dem Zivilisten Mursi nicht mehr als eine Randnotiz der jüngeren Geschichte zu sein.
Al-Sisi sieht sich indes selbst vor dem Hintergrund aktueller Zustimmungsraten und Wahlgängen auf einer Welle der öffentlichen Unterstützung, soweit das derzeit über Meinungsumfragen repräsentativ zu erheben und bei einer jüngsten Wahlbeteiligung von etwas über 28 Prozent überhaupt als solche zu bezeichnen ist. Verstärkt wird dieses offizielle Narrativ durch das Hofieren des ägyptischen Staatsoberhaupts in europäischen Hauptstädten.
Dennoch kann diese Woge des Populismus nicht verdecken, dass der ägyptische Staat erstens über weite Teile des Landes (z.B. Sinai) die Kontrolle verloren hat, zweitens massivste Einbußen in der Tourismusbranche erleidet, deren Kollateralschäden nach dem Anschlag auf die russische Passagiermaschine noch gar nicht abzusehen sind, und drittens wirtschafts- und fiskalpolitisch seit Jahren am Abgrund taumelt und dabei kaum überzeugende Handlungsstrategien unter Beweis stellen kann.
Europa und die internationale Staatengemeinschaft schauen indes, vor dem Hintergrund einer vermeintlich viel dringlicheren Suche nach funktionierenden, stabilen Partnern in einer sich neu ordnenden Region, großzügig über den Rückfall des Landes in autokratische Handlungsmuster hinweg.
Verlockung der Repression
Das Sisi-Regime, in seiner Selbstwahrnehmung Garant der Einheit der Nation und der Stabilität der öffentlichen Ordnung, vertraut zuvorderst aller denkbaren Mittel der Repression zur Erreichung seiner Ziele. Berichte über zehntausende politische Häftlinge werden erweitert durch ein offenkundig systemisches Versagen der Sicherheitskräfte bei der Einhaltung rechtsstaatlicher Normen.
Zuhauf gibt es Berichte der Gängelung von national wie international angesehenen Kulturschaffenden, wie dem weit über Ägypten hinaus bekannten Literaten Alaa al-Aswani. Die regimekritische NGO "Arabic Network for Human Rights" (ANHRI) sprach in einer Protestnote von einer Schmierkampagne gegen Al-Aswani.
Die Liste ließe sich quer durch Politik und Gesellschaft sowie zahlreiche Berufsgruppen fortsetzen. Es ist das Ergebnis einer Politikformulierung, die nur den Unterschied zwischen "für das Regime" und "gegen das Regime" kennt und letztere in die Nähe eines pauschalen Terrorismusverdachts rückt.
Vernachlässigung von Legitimität
Jede politische Ordnung, egal ob demokratisch oder autokratisch, bedarf einer legitimatorischen Grundidee. Dies trifft noch vielmehr auf die autoritären Regime des 21. Jahrhunderts zu, war doch früher – zu Zeiten der bilateralen Weltordnung – die Nähe zu einem ideologischen Patron eine hinreichende herrschaftspolitische Lebensversicherung.
Legitimität ist dabei als fluide Größe zu verstehen. Legitimitätskrisen führen nicht automatisch zu einem Regimewechsel und einem Zusammenbruch der geltenden Ordnung. Legitimität resultiert aus einer permanenten Verhandlung, bedarf fortlaufender Zustimmung und noch entscheidender eines Grundkonsenses hinsichtlich der Prinzipien der politischen Ordnung und der Begründung dieser, woraus sich auch das institutionelle Setup der Staats-Gesellschafts-Beziehungen ableitet.
In diesem Zusammenhang ist die neue ägyptische Verfassung sehr präzise und die demokratischste Verfassung, die Ägypten je hatte: Sie zeichnet bis in die Pharaonenzeit zurück den Nukleus einer nationalen Herkunftsgemeinschaft nach, rekurriert auf die Errungenschaften der zahlreichen Revolutionen, schreibt dem Militär wenig überraschend einige Meriten zu, aber – und das ist zentral – fokussiert das ägyptische Volk als elementare Drehscheibe aller(!) Souveränität: "We are the citizens. We are the Egyptian people, sovereigns in a sovereign homeland. This is our will and this is the Constitution of our revolution", heißt es in dem Verfassungstext.
Dieser Anspruch der politischen Ordnung wird in der derzeitigen Ausprägung der Politik ad absurdum geführt (z.B. die im Sommer 2015 per Dekret verschärften Anti-Terrorgesetze). Die für autoritäre Regime zumeist nicht überraschende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit der geltenden Ordnung stellt indes die Legitimitätskrise des Mubarak-Regimes, wo das autoritäre Regime über formale und informelle Machtbeziehungen und eigens kreierte Institutionen den nominal ebenso demokratischen Charakter der Verfassung aushebelte, in den Schatten. Warum geht das Sisi-Regime dieses Risiko ein und vertraut in der Erreichung von politischer Stabilität zuvorderst dem Mittel einer systematischen Repression?
Alte Seilschaften, neue Optionen
Die Dauerhaftigkeit von politischer Herrschaft in nicht-demokratischen Kontexten hängt selbstredend nicht nur von klugen Legitimationsstrategien inklusive eines Mindestmaßes an politischer Responsivität ab. Herrschaftssicherung und Dauerhaftigkeit bedürfen auch einer kreativen Kooptation von alliierten Elitengruppen, die es an das Regime zu binden und zu kontrollieren gilt.
Hier deutet vieles darauf hin, dass dieser Neuaushandlungsprozess von Pfründen und Privilegien, der auch unter Mubarak nie statisch war, sich derzeit in einem hochfluiden Prozess befindet. Besitzstrukturen im politisch motivierten Unternehmertum sowie Machtbeziehungen mit dem neuen politischen Machtzentrum werden neu arrangiert und zugunsten dem Militär nahe stehenden Unternehmen verschoben.
Anschaulich ist dies zu beobachten bei staatlichen Großprojekten wie dem Ausbau des Suezkanals oder anderen Investitionsvorhaben, die einerseits an längst vergessene Zeiten staatlicher Strukturpolitik unter Gamal Abdel Nasser erinnern und andererseits durch politisch motivierte Außenhandelspolitiken befreundeter Golfstaaten erweitert werden. Die Konsolidierung des Herrschaftsapparates ist dabei immer noch das prioritäre Ziel des Sisi-Regimes.
Neuausrichtung der "Roten Linien des Erlaubten"
"Rote Linien des Erlaubten", während der letzten Jahre des Mubarak-Regimes noch relativ genau vorherzusagen, erfahren eine Neuausrichtung mit zum Teil willkürlicher Auslegung im mittleren und höheren Verwaltungs- und Sicherheitsapparat. Das Sisi-Regime steht bei dieser herrschaftspolitischen Konsolidierung unter massivem Zeitdruck und wird 2016 auf ein Mehr an Zustimmung qua Leistung (Performanzlegitimität) und politischer Responsivität achten müssen, um den oben skizzierten Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der gesetzten Ordnung zu verringern.
Auch wenn Widerspruch von Seiten der Regimeopposition inmitten eines manichäischen Politikverständnisses derzeit recht effektiv aus der öffentlichen Auseinandersetzung herausgehalten wird und Stabilität nach den unruhigen Jahren der politischen Transformation das Ziel breiter gesellschaftlicher Gruppen ist, bleibt das Wissen und Handlungsrepertoire auf Seiten der Regimegegner und Kritiker, wie ein Regime herausgefordert werden kann, Teil eines kollektiven biographischen Orientierungspunkts.
Am Ende wird das Sisi-Regime daran gemessen werden, ob es seine niedergeschriebenen politischen, ökonomischen und sozialen Versprechen einhält. Die maximale Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen und die repressive Flankierung der Politik des Regimes kann dabei höchstens eine kurzfristige Herrschaftssicherung erreichen.
Thomas Demmelhuber
© Qantara.de 2015
Dr. Thomas Demmelhuber ist Professor für Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.