Was nicht passt, wird passend gemacht
Als "Haus des Islam" bezeichneten islamische Gelehrte früher einmal jene Gebiete, die unter islamischer Herrschaft standen. Unter westlichen Publizisten erfreut sich diese blumige Redewendung ungebrochener Beliebtheit.
Auch der deutsch-niederländische Soziologe Ruud Koopmans benutzt im Titel seines Buchs "Das verfallene Haus des Islam" diese Metapher, um die Gemeinsamkeiten muslimisch geprägter Länder zu unterstreichen. Mit seiner Verfallsdiagnose gesellt er sich zu so unterschiedlichen Autoren wie Bassam Tibi, Bernard Lewis, Dan Diner, Samuel Huntington, Hamed Abdel-Samad oder zuletzt Thilo Sarrazin. Die kamen in ihren Büchern zu ähnlichen Befunden: der Grund für den Niedergang der "islamischen Welt" sei vor allem in deren Religion, also im Islam, zu suchen.
Wissenschaftlich höchst umstritten
All diese Bücher waren aufgrund ihrer holzschnittartigen, aber griffigen Thesen in Fachkreisen meist höchst umstritten. Aber sie erzielten stets große mediale Aufmerksamkeit, viele wurden zu Bestellern. Die These ist im Westen sehr populär, auch, weil sie diesen von jeder Mitverantwortung für die Misere entlastet.
Aber passt das Bild vom "verfallenen Haus" überhaupt? In Saudi-Arabien und am Persischen Golf schießen die Wolkenkratzer schließlich in den Himmel. Mit ihren Ölmilliarden kaufen sich arabische Scheichs inzwischen westliche Fußballclubs, sie sanieren damit alte Moscheen auf dem Balkan oder bauen moderne Giga-Moscheen weltweit.
Auch in der Türkei, Indonesien oder Malaysia kann zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht von Verfall keine Rede sein. In einem schlechten Zustand befinden sich dagegen vor allem einstmals säkulare arabische Republiken wie Ägypten, der Irak, Libyen, Syrien und der Jemen, die von Militärputschen und Kriegen gebeutelt wurden.
Zweifellos hat Koopmans recht, dass viele muslimisch geprägte Staaten in einem beklagenswerten Zustand sind, was Demokratie und Menschenrechte angeht. Und zweifellos richtig ist sein Befund, dass der Aufstieg eines fundamentalistischen Islam in den vergangenen Jahrzehnten nicht dazu beigetragen hat, die Dinge zu verbessern. Die fehlende Trennung von Staat und Religion und die Instrumentalisierung des Islam zu politischen Zwecken haben die Lage insbesondere für Frauen, religiöse Minderheiten und Homosexuelle verschlechtert und deren Freiheiten eingeschränkt.
Dass die Ölmilliarden vom Golf zur Verbreitung eines fundamentalistischen Islam beigetragen haben, schreibt auch Koopmans. Es wäre interessant gewesen, hätte er untersucht, welche weiteren Faktoren den Aufstieg eines islamischen Fundamentalismus begünstigen, und welche ihn eindämmen.
Holzschnittartige Analyse
Doch Koopmans tut so, als sei diese Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte ein Phänomen, das sich isoliert vom übrigen Weltgeschehen und der Weltpolitik betrachten und rein intrensisch, also aus der Religion selbst heraus, erklären ließe. Der islamische Fundamentalismus hat demnach Auftrieb erhalten, weil der Islam eben fundamentalistisch ist. Das wirkt selbsterklärend, ist aber für einen Soziologen doch etwas schlicht.
In seiner Einleitung schreibt Koopmans zwar, er wisse sehr wohl zwischen traditionellem Islam und modernem Fundamentalismus zu unterscheiden. Im Laufe seines Buchs geht er aber mit zunehmend grobem Pinsel vor. Staaten wie Senegal und Tunesien mit säkularen Verfassungen nennt er "islamische Demokratien".
Er schreibt pauschal von einem "islamischen Demokratiedefizit" und von "islamischem Antisemitismus", ohne die Rolle der Religion dabei näher zu beleuchten. Und wenn er vom militanten Islamisten spricht, nennt er sie "islamische Aufständische" oder "islamische Gruppen". Das ist in seiner Undifferenziertheit etwas verstörend.
Im Untertitel seines Buches behauptet er, "Unfreiheit, Stagnation und Gewalt" in muslimisch geprägten Gesellschaften hätten "religiöse Ursachen". Aber an keiner Stelle seines Buchs erklärt er, was seiner Auffassung nach legitime religiös-konservative von fundamentalistischen Interpretationen des Islams unterscheidet.
Koopmans "real existierender Islam"
Stattdessen vergleicht er den Islam mit dem Kommunismus und das Geschlechterbild konservativer Muslime mit dem südafrikanischen Apartheid-System. Wenn Koopmans polemisch vom "real existierenden Islam" spricht, dann scheint es, als betrachte er den Islam insgesamt als eine politische Ideologie, nicht als eine Weltreligion.
Um zu belegen, dass sich die Rückständigkeit muslimisch geprägter Gesellschaften vor allem mit der Religion erklären lässt, stellt Koopmans jeweils zwei Länder, die sich in religiöser Hinsicht unterscheiden, nebeneinander. Er vergleicht die Malediven (muslimisch) mit Mauritius (überwiegend hinduistisch und christlich), Indien mit seinen Nachbarn Pakistan und Bangladesch, den Süden Nigerias (christlich) mit dem Norden (muslimisch) und Ägypten mit Südkorea.
Dabei schneiden die muslimisch geprägten Länder und Regionen in puncto Demokratie, Menschenrechte und wirtschaftlichem Fortschritt jeweils deutlich schlechter ab als ihre Gegenüber.
Das dient Koopmans als Beleg für seine These, dass es vor allem der Islam sei, der einer demokratischen Entwicklung im Wege stehe. Hätte er den Südsudan (christlich) mit dem Norden (muslimisch), die Philippinen (christlich) mit Indonesien (muslimisch), Serbien mit Bosnien oder Albanien mit Nordkorea verglichen, wäre der Vergleich für die muslimisch geprägten Länder vielleicht etwas vorteilhafter ausgefallen. Aber dann hätte sich Koopmans natürlich seine These kaputt gemacht.
Koopmans fährt mehr Zahlen und Statistiken auf als Thilo Sarrazin. Sein Umgang damit ist zwar deutlich seriöser und wissenschaftlicher, schließlich kommt er aus der quantitativen Sozialforschung. Aber wie bei Sarrazin dienen die Zahlen ihm in erster Linie dazu, eine These zu belegen. Was nicht passt, wird passend gemacht. Die Fakten, die nicht zu seiner These passen, lässt er weg. So nivelliert Koopmans die Unterschiede zwischen muslimisch geprägten Staaten.
Dabei gibt es wohl keinen anderen "Kulturraum", in dem eine solch große Vielfalt an Staatsformen vorherrscht wie in der sogenannten "islamischen Welt": von säkularen Demokratien und Diktaturen über parlamentarische und absolute Monarchien und ehemaligen sozialistische Militärregimes bis zu modernen islamischen Theokratien ist alles vertreten.
Der kulturalistische Blick
Erstaunlich für einen Soziologen ist auch, wie wenig Schicht und Klasse bei Koopmans eine Rolle spielen, und wie sehr er alles über schwammigen Begriff der "Kultur" zu erklären versucht. Dabei scheint es für ihn – anders als für Huntington, auf den er sich sehr wohlwollend bezieht – nur einen "Kulturkreis" zu geben: den islamischen.
Sein Buch erweckt den Eindruck, nur Muslime hätten "Religion und Kultur". Von einem Autor, der Muslimen mehr Kritik an den eigenen Traditionen empfiehlt, würde man zudem erwarten, mit gutem Beispiel voranzugehen und auch etwas selbstkritischer auf die eigene Kultur zu blicken. Doch davon ist Koopmans weit entfernt.
Den westlichen Kolonialismus lässt er in einem äußerst milden Licht erstrahlen, indem er die dunklen Seiten ausblendet und über dessen ideologische Grundlage, dem Rassismus, kein Wort verliert. Während er akribisch alle Toten islamistischer Anschläge aufzählt, geht er über das lange Sündenregister westlicher Kriege und Interventionen geflissentlich hinweg.
Aus der Zeit gefallen
"Ausländische Interventionen haben nicht immer zur Verbesserung der Lage beigetragen", schreibt er lapidar, über den desaströsen Einmarsch im Irak, dieser habe "die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten nachhaltig beschädigt". Waren da nicht auch Hunderttausende von Toten?
Dass westliche Interventionen den militanten Islamismus befeuert haben könnte, dieser Gedanke scheint Koopmans fremd. Dabei sind die Taliban, Al-Qaida und der IS nicht denkbar ohne die Kriege in Afghanistan, im Irak und Libyen.
Das Buch wirkt aber auch etwas aus der Zeit gefallen. Schließlich befindet sich auch die westliche Welt derzeit in der Krise, und Demokratie und Menschenrechte sind weltweit auf dem Rückmarsch. Zugleich zeigen die Ereignisse der vergangenen Monate im Irak, in Ägypten, im Iran, im Libanon oder in Algerien, dass die Sehnsucht nach Mitsprache und Gerechtigkeit auch in vielen muslimisch geprägten Ländern die Menschen immer noch auf die Straße treibt. Wer wissen möchte, wie man diese Menschen in ihrem Streben nach Frieden und Freiheit unterstützen könnte, der wird bei Koopmans leider nicht schlau.
Daniel Bax
© Qantara.de 2020
Ruud Koopmans: "Das verfallene Haus des Islam", Verlag C.H. Beck 2020, ISBN: 978-3-406-74924-7, 288 Seiten