Orientalismus der übelsten Sorte
Als ich von einem syrischen Freund erfuhr, dass die Stadt Osnabrück dem prominenten syrischen Dichter und Intellektuellen Adonis den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis 2015 verliehen hat, war mein erster Gedanke: merkwürdig, in Syrien ist doch noch immer Krieg. Die Orgie von systematischer Zerstörung, von Terror und Vertreibung erfüllt inzwischen die ganze Welt mit Schrecken.
Ich habe mich dann gefragt, ob es ein kultureller, ein literarischer oder ein politischer Preis ist. Bei einem Preis, der den Namen Remarques trägt, wird es im Grunde immer um Krieg und Frieden gehen. Und da Krieg und Frieden Ausdruck politischer Verhältnisse sind, haben wir es also mit einem politischen Preis par excellence zu tun.
Wie vielen anderen syrischen Intellektuellen, ob in der Heimat oder im Exil, erschien mir die Verleihung dieses Preises an Adonis ausgerechnet in dieser Zeit als ein Affront gegenüber Syrien und dem Besten, was seine Kultur hervorgebracht hat, gegenüber der Aufstandsbewegung, der Tapferkeit und den Opfern der friedlichen Aktivisten, gegenüber den Massen von leidgeprüften Vertriebenen und Flüchtlingen.
Welche freien Wahlen?
Zu einem ersten Schlag gegen Syrien und die Syrer hatte Adonis bereits in der friedlichen Anfangsphase des Aufstands ausgeholt, als er Baschar al-Assad in einem offenen Brief als "gewählten Präsidenten" Syriens bezeichnete. Das löste einen Sturm der Entrüstung aus, da es seit 1963 keine freien Wahlen mehr in Syrien gegeben hat und Baschar al-Assad nur als Sprössling einer vom Militär gestützten Dynastie Präsident der Republik ist. Spott und Häme wurden über Adonis ausgekippt, und er musste sich die sarkastische Frage gefallen lassen, bei welchen freien Wahlen er seine Stimme den Assads denn wohl gegeben habe und ob er so töricht sei, zu glauben, dass seine Stimme etwas bewirkt habe.
Er, der sich von Anfang an auf die Seite des Diktators gestellt hat, äußerte sich kürzlich zum zweiten Mal in abfälliger Weise über Syrien und das syrische Volk. In einem Gespräch mit der Beiruter Tageszeitung "As-Safir" behauptete er, ein Drittel der syrischen Bevölkerung sei "ausgewandert". Auch dies eine obszöne Verdrehung der Tatsachen, wenn er die verzweifelten Flüchtlinge, die vor Giftgas, Fassbomben, Raketen und kaltblütigen Massakern fliehen, als gewöhnliche Auswanderer bezeichnet, die ihrem Land aus eigenem Entschluss den Rücken kehren, nur um eines besseren Lebens willen. Wie tief kann man sinken? Weil ein Drittel der syrischen Bevölkerung eben emigriert sei, könne von einem Aufstand gegen ein tyrannisches Regime auch nicht die Rede sein, so der 1930 geborene Dichter weiter.
Was in Syrien passiert, ist also für Adonis das Werk fremder Mächte, die das Land zugrunde richten wollen. Dies ist seine Version der offiziellen Linie des Assad-Regimes, das von einer "ausländischen Verschwörung" spricht, deren Ziel die Vernichtung Syriens sei. Damit vertritt er die Haltung des Regimes, das die Menschen mit der Drohung "Entweder Assad, oder wir brennen das Land nieder" beziehungsweise "Entweder Assad, oder das Land fällt in die Hände von Islamisten und Dschihadisten" einschüchtern will.
Erstaunliche Doppelmoral
Zwischen dem anfänglichen und dem späteren Affront hatte Adonis sich pseudosäkular gegeben und den Aufständischen eine allzu große Nähe zur Religion vorgeworfen. Die Syrer durchschauten sein Spiel sofort; denn sie erinnerten sich, dass er die islamische Revolution in Iran in den höchsten Tönen gelobt und anerkennend von den Massen gesprochen hatte, die sich zum Freitagsgebet in den Moscheen versammelten und zu Begräbnissen strömten. Immerhin wurde der syrische Aufstand in seiner friedlichen Anfangsphase nicht von turbantragenden Scheichs oder gesalbten Klerikern angeführt.
Angesichts der hymnischen Gedichte und Aufsätze, in denen Adonis die islamische Revolution in Iran verherrlicht, ist es schlicht unaufrichtig, wenn er der syrischen Aufstandsbewegung eine Vermengung von Religion und Revolution vorwirft. Es ist die reine Heuchelei, wenn er dies in Syrien verurteilt, in Iran aber uneingeschränkt begrüßt. Und dass er die dynastische Herrschaft des Schahs in Iran abgelehnt hat, die dynastische Despotie der Assads jedoch akzeptiert und verteidigt - diesen eklatanten Widerspruch kann er nur mühsam mit abwegigen und vieldeutigen Argumenten kaschieren.
Die erstaunliche Doppelmoral dieses so prominenten syrischen Dichters kann ich mir nur damit erklären, dass er sich plötzlich seiner Nähe zum schiitischen Islam und seiner alawitisch-ländlichen Herkunft entsann und mit dem revolutionären und säkularen Adonis, den ich während unserer gemeinsamen Arbeit in Beiruts goldener Epoche kennengelernt habe, nichts mehr zu tun haben wollte.
In den frühen achtziger Jahren hatte er den säkularen Humanismus, den wir alle in Beirut als Fundament der zeitgenössischen arabischen Kultur propagierten, schon längst verworfen. Für ihn war nun Khomeinis Konzept des "Velayat-e Faqih" (Herrschaft des Rechtsgelehrten beziehungsweise des Revolutionsführers) der neue Leitstern für Politik, Geschichte, Ideologie und Kultur der muslimischen Welt.
Jede Zeit hat ihre eigenen Probleme
Adonis arbeitete nicht mehr mit Begriffen wie Säkularismus, Freiheit, Kreativität, Revolution, Wandel, Kritik, Emanzipation, Befreiung und Gleichheit, sondern mit theologischen Begriffen der schiitischen Theologie, mit Prophezeiung, Herrschaft, Führungsauftrag, Idschtihad, Inspiration, Offenbarung, das Visionäre, das Wundersame, das Innere, das Jenseits, das Ekstatische, das Mystische und so weiter.
Als Beispiel für seine obskurantische Prosa aus dieser Zeit mag die folgende Passage aus einem seiner Artikel dienen, in dem er die schiitische Ideologie der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" in der arabischen Welt propagiert: "Es versteht sich von selbst, dass die Prophezeiung das Fundament für ein neues Leben und eine neue Ordnung schuf. Auch versteht sich von selbst, dass die Politik des Imamats, also die Herrschaft, sich an der Prophezeiung orientiert und von ihr inspirieren lässt. Denn jedes Imamat, jede Herrschaft gehört in eine bestimmte Zeit, und jede Zeit hat ihre eigenen Probleme. Bedeutung und Legitimität der Herrschaft ergeben sich daraus, inwieweit sie anhand von Idschtihad den Wandel der Verhältnisse und die neuen Realitäten unter korrekter Anwendung der Politik der Prophezeiung verstehen kann." Man beachte, wie die Diktatur des iranischen Revolutionsführers hier durch direkte Bezugnahme auf den Propheten Mohammed legitimiert und verabsolutiert wird.
Adonis verabschiedete sich von seiner säkularen Haltung, die es ihm erlaubt hätte, den uralten Gegensatz Orient versus Okzident zu überwinden, und vertrat nun gewissermaßen einen umgekehrten Orientalismus: Er verurteilte den modernen Westen und bezeichnete den Orient, weil ursprünglich und unverfälscht, als überlegen.
Laut seinem "Manifest der Moderne" von 1980 ist der Westen "Technik, Vernunft, System, Ordnung, Methode, Symmetrie", der Orient dagegen "das Prophetische, Visionäre, Magische, Wundersame, Unendliche, Innerliche, Transzendente, Phantasievolle, Mystische, Ekstatische und so weiter". Anders gesagt, wieder mit Adonis' eigenen Worten: Der Orient ist eine nebulöse originäre Unordnung, aus der sich die westliche Welt entwickelte. Dies ist Orientalismus der übelsten Sorte, auf den Kopf gestellt und bekräftigt von einem Orientalen.
Loyaler Anhänger der Theokratie
Eine aufschlussreiche Konsequenz seiner Hinwendung zu Khomeinis Herrschaftsmodell war sein unüberhörbares Schweigen nach der Fatwa, die nach Erscheinen der "Satanischen Verse" über Salman Rushdie verhängt wurde. In den neunziger Jahren dominierte die Rushdie-Affäre die globale Kulturszene. Adonis meldete sich, ganz untypisch für ihn, kein einziges Mal in diesem Jahrzehnt zu Wort, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen, um für die Freiheit der Literatur und die Rechte der Schriftsteller einzutreten.
Er schwieg zu der Fatwa, die für Rushdie das Todesurteil bedeutete, und zu der eklatanten Verletzung all jener humanistischen Prinzipien, die er einst in der arabischen Welt propagiert hatte. Schon dies zeigte, was von seinem Eintreten für Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Aufklärung tatsächlich zu halten war.
Wer einen Blick in seine Kulturzeitschrift "Mawaqif" (Standpunkte) wirft, wird in den Ausgaben der neunziger Jahre nichts über Rushdie, die Fatwa oder die "Satanischen Verse" lesen. Mit geradezu blindem Engagement warb Adonis stattdessen für Khomeinis Konzept der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" und erwies sich als loyaler Anhänger der iranischen Theokratie.
Seine späteren Ausführungen zu Säkularismus, Gleichheit, Demokratie und Aufklärung sollte man daher nicht für bare Münze nehmen. Vielmehr sollte man sie - eingedenk seiner uneingeschränkten Hinwendung zur Ideologie und Praxis des iranischen Regimes - auf ihre Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit hin untersuchen. Ebendies hat die Jury, die ihm den Osnabrücker Remarque-Friedenspreis zuerkannt hat, offenbar leider versäumt.
Sadiq al-Azm
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Der syrische Philosoph Sadiq al-Azm, 1934 in Damaskus geboren, ist einer der wichtigsten säkularen arabischen Intellektuellen. Immer wieder hat er das Verhältnis zwischen islamisch geprägter Kultur und westlicher Auffassung von Demokratie und Meinungsfreiheit untersucht und gegen den Islamismus Stellung bezogen. Zuletzt erschien auf Deutsch "Islam und säkularer Humanismus". In diesem Jahr erhielt er die Goethe-Medaille.