Konfessionelle Zerreißprobe

Der irakische Publizist Hussain al-Mozany führt die Krise im Zweistromland vor allem auf religiöse Einflüsse zurück, die zur Spaltung der Bevölkerung geführt hätten. Eine gemeinsame Identität erscheint ihm nur durch eine Rückbesinnung auf das kulturelle Erbe möglich.

Der irakische Publizist Hussain al-Mozany führt die Krise im Zweistromland vor allem auf religiöse Einflüsse zurück, die zur Spaltung der Bevölkerung geführt hätten. Eine gemeinsame Identität der verschiedenen Religionen und Ethnien erscheint ihm nur durch eine Rückbesinnung auf das kulturelle Erbe möglich.

Die goldene Moschee in Samarra nach dem Angriff am 22. Februar 2006; Foto: AP
Wer waren die Wachleute, die den Terroristen halfen, das Gebetshaus in die Luft zu jagen? Die goldene Moschee in Samarra nach dem Angriff am 22. Februar 2006

​​Mir war immer bewusst, dass die wahre Identität des Iraks niemals religiös-islamisch, sondern in erster Linie vielseitig kulturell geprägt war. Ich bin fest davon überzeugt, dass die konfessionellen Gruppierungen im Irak weder die größte noch die einzige Gefahr darstellen, die die ohnehin brüchige Einheit des Landes bedroht.

Vielmehr ist es der Islam selbst von dem in Theorie und Praxis die größte Gefahr ausgeht. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen Imperialismus, Zionismus oder Kolonialismus rechtfertigt er das Töten aufgrund konfessioneller Zugehörigkeit.

Kein Iraker betet mehr in einer schiitischen oder sunnitischen Moschee, außer um seinen Bruder zu rächen. Rache ist zu einem alles bestimmenden, moralischen Kriterium geworden, das die Iraker als "tötende Brüder" eint.

Konfessionskrieg nach libanesischem Muster

Wenn gegenwärtig über einen offenen Bürgerkrieg im Irak gesprochen wird, sollte man sich zunächst einmal des Unterschieds zwischen Bürgerkrieg und Konfessionskrieg bewusst sein. Ich habe zum Beispiel den Bürgerkrieg im Libanon erlebt und ihn als politisch-ideologischen Krieg empfunden, da die politische Linke gegen die Rechte kämpfte.

Auch im spanischen Bürgerkrieg kämpften Republikaner gegen Faschisten. Als die beiden im Libanon kämpfenden Parteien Position bezogen, erlebte man, wie sich Christen, Schiiten, Sunniten, Atheisten, Kommunisten und Sozialisten im Lager der Linken in West-Beirut versammelten, mit Rückendeckung aus Moskau.

In Ost-Beirut lag dagegen die Festung der rechten und faschistischen Milizen, die auf die Unterstützung Washingtons und seiner Verbündeten zählen konnten.

Inzwischen hat sich die Situation geändert, der Kommunismus hat abgedankt und in der internationalen Politik herrscht ein neues Klima vor. Im Libanon haben die konfessionellen Gruppierungen den Platz der Rechten eingenommen.

Im Irak hingegen ist kaum eine politische Lagerbildung auszumachen, man bekommt nur die Turbane der verschiedenen Konfessionen zu Gesicht – ob schwarz, weiß, sunnitisch und schiitisch. Dahinter verbergen sich Menschenmassen, die den Krieg als segensreich und wahrhaftig preisen.

Es ist der bislang schmutzigste Krieg im Irak, ein Krieg, bei dem es vor allem darum geht, den Irak politisch, geographisch und wirtschaftlich von außen zu kontrollieren. Die Anhänger der beiden Konfessionen begreifen den Irak nicht als identitätsstiftendes Land.

Überall herrscht konfessioneller Hass. Wer der schiitischen Gruppierung angehört, hält sich genauestens an die aus Iran stammenden Weisungen. Auf der anderen Seite unterstehen die sunnitischen Anhänger den wahhabitischen Herrschern Saudi-Arabiens.

Die Fremdbestimmung durch diese Regime hat für die irakische Zivilbevölkerung äußerst negative Auswirkungen. Aber gibt es Schiiten oder Sunniten, bei denen die Konfession nicht so sehr im Mittelpunkt steht?

Ein föderalistisches Projekt?

Nein, beide Seiten müssen ihrer Konfession anhängen, schließlich sind sie felsenfest von ihr überzeugt. Bildlich gesprochen: Unter ihren Kopfkissen hat entweder das Schwert Alis oder das Omars zu liegen. Die beiden Schwerter erscheinen manchmal in der Hand des Ayatollah, ein andermal in der eines wahhabitischen Prinzen.

Daher kann man im "islamischen Revolutionsrat", der "Dawa-Partei" oder der "Mahdi-Armee", nichts anderes sehen, als den offenkundigen Beweis für die allmähliche Spaltung des Iraks und den Machtzuwachs der Iraner an Euphrat und Tigris.

Dies entspricht auch dem iranischen Vorgehen im Libanon, wo man die Hizbollah für einen ungleichen Krieg instrumentalisierte, der sich verheerend auf das Land und die Bevölkerung auswirkte.

Ebenso wenig lässt sich leugnen, dass die "Vereinigung der Islamgelehrten" mit der "Sunna-Stiftung", der "Islamischen Partei" und den Ba'athisten sowie Zarqawi-Anhängern ein Bündnis eingegangen ist – eine kriminelle Bande, deren Ziel die Verbreitung von Terror und die Vernichtung der anderen Konfession ist.

Dabei befolgen sie genau das, was ihnen aus Saudi-Arabien vorgegeben wird. Die Iraker haben für die konfessionelle Zugehörigkeit zur Schia und Sunna ihre irakische Identität aufgegeben.

Dieser Konfessionskrieg droht den Irak zu zerreißen. Mit dem föderalistischen Projekt ist in Wahrheit die Teilung des Iraks auf Basis der Konfessionen gemeint. Auf diese Weise wollen sich die beiden Kontrahenten Iran und Saudi-Arabien die Einverleibung "ihres" Teils sichern.

Das Schiitentum im Irak ist von Armut und Rückständigkeit geprägt. Es kann sich auf keine breite kulturelle Basis stützen, weil seine religiöse Führungselite ignorant und für patriotische Gefühle unempfänglich ist. Wie ließe sich sonst erklären, dass die Mehrheit die Trennung von der Nation in verwaltungstechnischer und geographischer Hinsicht fordert?

Die Rolle Saudi-Arabiens

Auf der anderen Seite können wir beobachten, wie die sunnitisch orientierten Herrscher in Saudi-Arabien mit der Sunna im Irak sympathisieren und diese für ihre Zwecke instrumentalisieren.

Auch das ökonomische Interesse Saudi-Arabiens und des Irans gilt einer Ausdehnung des Konfliktes im Irak, zumal dieser ihnen den Export von Erdöl erleichtert. Der Irak zahlt hierfür einen hohen Preis für seine beiden Nachbarstaaten und die Profite ihrer Herrscher.

Eine umfassende Identität, die alle Individuen der irakischen Gesellschaft eint, muss auf einer lebendigen kulturellen Vergangenheit gründen. Seit den Sumerern war das Land nicht homogen, weder in ethnischer, noch in sprachlicher, konfessioneller oder religiöser Hinsicht. Seine kulturelle Vielfalt war sogar Quelle seiner Kraft und Kontinuität, die religiöse Konfession war schlicht eines von vielen Unterscheidungsmerkmalen.

Immer, wenn die Iraker sich von der Religion entfernten, ob in heidnischer oder islamischer Zeit, blühten Kultur und Kreativität auf, gewann ihre Einheit an Kraft und stärkte die politische Macht des Landes.

Die Religion, wie tief verwurzelt sie auch sein mag, führte stets zu Zersplitterung und Bürgerkriegen. Die Einheit des Iraks gründete nie auf einem geographischen, politischen oder gar religiösen Zusammenhalt, sondern war immer schon kulturell bedingt – eine Einheit, die die historischen Wandlungen und politisch-militärischen Ereignisse, wie Eroberung, Besatzung, wechselnde Grenzen, überdauerte.

Kultur und Identität

So ist die konfessionelle Herrschaftskaste heute im Irak, ob schiitisch oder sunnitisch, der ärgste Feind der irakischen Kultur. Das wird am Beispiel der Kriterien für die Ernennung des früheren irakischen Kulturministers Nouri al-Rawi deutlich.

Mit der Leitung dieses "nicht-führungsrelevanten" Ministeriums, wie es im heutigen irakischen Amtsjargon heißt, wurde er betraut, weil es im Gegensatz zum Ministerium für Erdöl oder dem Innen- bzw. Außenministerium oder dem Verteidigungsministerium wenig Spielraum für persönliche Bereicherung bietet.

Ins Amt gelangte er als "Quotenmann" nur deshalb, weil er Sunnit war – obgleich er nicht die geringste Kompetenz für dieses Amt mitbrachte. In der Saddam-Ära war er einfacher Polizist, später schlug er sich als Verkäufer von Tierfutter durch.

Was haben wir von den Grabstätten und Mausoleen der Heiligen, wenn nicht einmal für die einfachsten Regeln zum Schutze der Besucher garantiert werden kann? Wer zum Beispiel tötete Abd al-Majid al-Khoie, den Sohn des höchsten schiitischen Würdenträgers im Mausoleum des Imam Ali? Wer sind die Wachleute der goldenen Moschee in Samarra, die den Terroristen halfen, das Gebetshaus in die Luft zu jagen?

Die irakischen Intellektuellen tragen die Verantwortung für die Vereitelung dieser Teilungsstrategien, sie sind verantwortlich für Gegenwart und Zukunft des Iraks. Ihre Pflicht ist es, das, was von seiner täglich schrumpfenden Einheit übrig bleibt, zu bewahren. Sie dürfen den Irak nicht zerstörerischen, religiösen Ignoranten als Spielball überlassen.

Hussain al-Mozany

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell

© 2006 Qantara.de

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