Zwei Ufer, ein Schicksal
Für die türkische Geschichtsschreibung war 1922 das Jahr des Sieges, aus griechischer Sicht das Jahr der kleinasiatischen Katastrophe: 1923 wurde das türkisch-griechische Abkommen zum Austausch von orthodoxen Christen gegen Muslime unterzeichnet. Tuba Tuncak hat recherchiert.
Trotz der gegensätzlichen Wahrnehmung dieses Datums an beiden Ufern der Ägäis teilten die 1,5 Millionen orthodoxen Christen Anatoliens und die 400.000 griechischen Muslime dasselbe Schicksal.
Der rückwirkend geltende Vertrag betraf nicht nur den Austausch der im September 1922 nach Griechenland geflohenen kleinasiatischen Griechen, sondern auch Hunderttausende von Muslimen, die 1912 und 1913 während der Balkankriege nach Anatolien geflohen waren. Nur die 120.000 Muslime in West-Trakien und die Istanbuler Griechen durften bleiben.
Religiöse Zugehörigkeit
Beide Staaten beabsichtigten, diese Minderheiten in zukünftigen Konflikten als Pfand zu benutzen, so die Migrationsexpertin Nese Erdilek von der Istanbuler Bilgi-Universität.
Das Abkommen, dessen Kriterium allein die Religionszugehörigkeit war, hat dem Lausanner Friedensvertrag den Weg bereitet. In späteren Jahren diente es in ähnlichen Fällen als Modellvertrag, etwa bei der Vertreibung der Deutschen aus Polen nach dem 2. Weltkrieg.
Die schnelle Einigung zweier traditionell derart verfeindeter Staaten ist ungewöhnlich. Laut Professor Michael Barutciski, Experte für Internationales Recht und Politik an der Universität Oxford, war der Hintergrund das beidseitige Streben nach einem einheitlichen Nationalstaat. Tatsächlich entledigten sich auf diese Weise beide Länder dem größten Teil ihrer Minderheiten.
Damals zählte Griechenland gerade einmal viereinhalb Millionen Einwohner. Der Zufluss der Kriegsflüchtlinge aus Anatolien erhöhte diese Zahl um mehr als 25 Prozent. Um für diese Flüchtlinge Häuser und Arbeit zu schaffen, wollte Athen die muslimischen Einwohner dazu bringen, das Land in Richtung Türkei zu verlassen.
Ankara dagegen versuchte die Rückkehr der geflohenen Griechen zu verhindern. Aber der Besitz der 400.000 griechischen Muslime war für die 1,5 Millionen kleinasiatischen Griechen bei Weitem nicht ausreichend.
Vielfältige Wirkungen
Zunächst litt die griechische Wirtschaft Jahrzehnte unter der Last der neuen Einwohner. Doch schließlich konnte sie sich dank der Außenhilfen und der weltweiten Wirtschaftsbeziehungen der eingewanderten Kaufleute erholen.
Der gut ausgebildete, liberale Handelsstand aus Anatolien unterstützte den Ministerpräsidenten Venizelos gegen König Konstantin, so dass dieser ins Exil floh, und 1924 durch ein Referendum die Republik gegründet wurde.
Aber der Friedensvertrag zwischen Venizelos und Atatürk 1930 enttäuschte die anatolischen Griechen, da Venizelos in dem Vertrag auf Schadensersatzforderungen verzichtete, und eine Rückkehr der Zuwanderer für immer ausgeschlossen wurde. So schlossen sich die meisten Zuwanderer der linken Bewegung an und standen im Bürgerkrieg von 1944-48 auf Seiten der Kommunisten.
Die Türkei beschloss, ausländische Hilfsangebote abzulehnen und die Last der Zuwanderer allein zu tragen. Der US-Diplomat Raymond Hare war der Ansicht, dass dadurch die Türkei die Einmischung anderer Länder in ihre Innenpolitik verhinderte. Der Preis dafür war, dass die türkische Wirtschaft die mit den Griechen verlorengegangenen Geschäftsbeziehungen lange Zeit nicht kompensieren konnte.
Die wenigen gebildeten Zuwanderer konnten wichtige Stellen im Staatsapparat der jungen türkischen Republik einnehmen. Aber da die Republik auf dem Prinzip "eine Nation, eine Sprache" gegründet war, tolerierte man letztlich die andere Identität der Zuwanderer nicht.
Die Betroffenen
Die Muttersprachen vieler muslimischer Zuwanderer waren Griechisch, Bulgarisch oder Pomakisch. Deshalb wurden sie häufig von den türkischen Bevölkerung abgelehnt und diskriminiert. Die griechischen Zuwanderer, von denen ein Drittel nur Griechisch konnte, mussten ähnliche Erfahrungen machen.
Während die muslimischen Zuwanderer in der Türkei als "Grieche" beschimpft wurden, passierte das gleiche den anatolischen Griechen in Griechenland; nur hieß es hier abfällig "Türke" oder "mit Joghurt Getaufter".
Als Folge dieser Diskriminierung, aber auch aus Kummer über die verlorene Heimat, flüchteten sich viele Zuwanderer in Alkohol und Drogen. Sie wussten, dass sie ihre Heimat 50 Jahre lang nicht besuchen durften.
Die muslimischen und christlichen Betroffenen, die innerhalb weniger Tagen ihr Haus oder Landgut verlassen, wochenlang an den Häfen in Zelten leben und in überfüllten Schiffen reisen mussten, fingen auf der anderen Seite der Ägäis bei Null an.
Wegen der Planlosigkeit der Siedlungspolitik mussten sie in der neuen Heimat mehrmals den Ort wechseln. Aber trotz dieser Schwierigkeiten vergaßen sie weder ihre Muttersprache noch ihre Ess- und Musikkultur.
Und heute?
Bis heute trifft man in Dörfern bei Thessaloniki Türkisch oder in West-Anatolien Griechisch sprechende Kinder von Zuwanderern.
Da der Völkeraustausch die Wirtschaft und demographische Struktur sehr stark beeinflusste, hat man in Griechenland die Ereignisse von Anfang an archiviert. In der Türkei hingegen wurden diese Ereignisse verdrängt. Auch in Schulbüchern finden sich keine Hinweise. Andererseits hat man in den letzten Jahren unzählige Bücher zu dem Thema veröffentlicht.
Die nachgeborenen Generationen beginnen, ihre Wurzeln zu suchen. Sie treffen sich in Vereinen wie "The Foundation of Lausanne Treaty Emigrants" in Istanbul oder in kleinasiatischen Vereinen in Griechenland, organisieren internationale Konferenzen, versuchen ihr gemeinsames kulturelles Erbe zu schützen.
Nach dem Ende des fünfzigjährigen Besuchsverbots und durch die Verbesserung der griechisch-türkischen Beziehungen seit 1999 besuchten tausende Migrantenkinder die Häuser ihrer Vorfahren. Sie essen, singen und tanzen mit der Gegenseite. Die Türken und Griechen, die vor 85 Jahren wegen der Feindschaften getrennt wurden, kommen heute für den Frieden zusammen.
Tuba Tuncak
© Qantara.de 2008
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