Ein regionaler Balanceakt
Die Türkei hat sich in letzter Zeit zu einem Hauptakteur in der gemeinsamen Politik gegenüber Syrien hervorgetan, die darauf abzielt, Präsident Baschar al-Assad zum Rücktritt zu zwingen. Das ist eine deutliche Kehrtwende in der türkischen Außenpolitik, denn in den vergangenen zwei Jahren hat die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan keine Mühen gescheut, ein gutes Verhältnis zu seinem Nachbarn Syrien zu pflegen, mit dem es durch eine lange gemeinsame Landgrenze verbunden ist.
Auch die Beziehungen der Türkei zu Iran, der als Unterstützer des Assad-Regimes gilt und die von der Türkei im Rahmen der sogenannten "Null-Problem-Politik mit den Nachbarstaaten" von Außenminister Ahmet Davutoğlu gepflegt wurden, sind durch den Kurswechsel im Umgang mit Syrien erheblich belastet worden.
Angesichts dieser neuen Spannungen sei daran erinnert, welche Wut noch vor wenigen Monaten bei führenden amerikanischen Politikern über den von ihnen empfundenen "Verrat der Türkei" aufgekommen war.
Ihrer Auffassung nach hatte die Türkei eine Neuausrichtung ihrer Außenpolitik hin zum islamischen Nahen Osten und weg von der westlichen Welt vorgenommen – eine Verlagerung, die sich angeblich in den sich verschlechternden Beziehungen des Landes zu Israel und engeren Beziehungen zum Iran und zu Syrien widerspiegelte.
Keine ideologisch ausgerichtete Außenpolitik
Viele politische Entscheidungsträger und Politikexperten, die nicht in der Lage oder nicht gewillt waren, zwischen türkisch-israelischen und türkisch-amerikanischen Beziehungen zu unterscheiden, haben Erdoğans Verurteilung der israelischen Gaza-Blockade als Versuch interpretiert, sich nicht nur auf Kosten der türkischen Beziehungen zu Israel, sondern generell zum Westen bei seinen arabischen Nachbarn beliebt zu machen.
Der Versuch der Türkei, zwischen den großen westlichen Mächten und dem Iran bezüglich der Uranvorräte des Landes zu vermitteln, ist im Westen nicht gewürdigt worden. Tatsächlich wurden die Bemühungen, gerade als sie Früchte zu tragen schienen, von den Vereinigten Staaten zunichte gemacht. Die anschließende Entscheidung der Türkei, neue Sanktionen gegen den Iran im UN-Sicherheitsrat abzulehnen, schien ein weiterer Beweis dafür zu sein, dass die Türkei eine "islamische" Außenpolitik eingeschlagen hatte.
Voller Sorge wurde in Amerika vermutet, dass es für die Türkei ein Widerspruch ist, sich sowohl um gute Beziehungen mit den westlichen Ländern als auch mit dem islamischen Nahen Osten zu bemühen und dass Ankaras Entscheidung, die Beziehungen zu seinen muslimischen Nachbarn zu verbessern, in erster Linie von religiösen und ideologischen Belangen motiviert war, die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) für wichtig erachtet wurden.
Die neuerdings angespannten Beziehungen der Türkei zum Iran beweisen den grundlegenden Trugschluss dieser Annahme und lassen auf eine nicht-ideologische Außenpolitik schließen, die den nationalen türkischen Interessen so dient, wie es die politische Elite des Landes – einschließlich der Post-Islamisten, die heute an der Macht sind – verlangt.
Frontstellung gegen Assad
Die Unstimmigkeiten zwischen der Türkei und dem Iran drehten sich anfangs um ihre gegensätzlichen Haltungen zu den syrischen Aufständen gegen die Assad-Diktatur. Der Iran hat sich nachdrücklich für das Regime Assad eingesetzt, seinen einzigen arabischen Verbündeten, um der Hisbollah im Libanon materielle Unterstützung zukommen zu lassen.
Im Gegensatz dazu hat sich die Türkei nach anfänglichem Zögern voll und ganz hinter die Gegner von Assad gestellt und unter anderem den Aufständischen und Überläufern der syrischen Armee ein Rückzugsgebiet eröffnet. Die Türkei ist sogar noch weiter gegangen und unterstützt die gespaltene syrische Opposition darin, auf ihrem Territorium zusammenzukommen, um eine gemeinsame Front gegen das Regime Assad bilden und eine glaubwürdige politische Alternative entwickeln zu können.
Es gibt zwei Gründe, warum die Türkei ihre Haltung zu Syrien kurzerhand geändert und ihre Position dem Standpunkt der westlichen Führungsmächte angeglichen hat. Erstens kann es sich die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) nicht erlauben, als Gegner der Demokratiebewegung in Syrien betrachtet zu werden, wenn man bedenkt, dass ihre eigene Legitimität wesentlich auf ihrer demokratischen Glaubwürdigkeit beruht.
Zweitens war die Regierung Erdoğan, als sie zu dem Schluss gekommen war, dass Assads Regime scheitern muss, bestrebt, ihre zukünftigen Interessen in Syrien zu sichern, das für die Türkei von strategischer Bedeutung ist – auch auf Kosten ihrer Beziehungen zum Iran.
Erneute iranisch-türkische Spannungen
Irans Unmut über den "Verrat der Türkei an Assad" hat sich durch die unlängst getroffene Entscheidung der Regierung Erdoğan verstärkt, in Malatya, im Osten der Türkei, ein Frühwarnradar im Rahmen eines NATO-Raketenabwehrsystems zu installieren – mit dem iranische Raketen aufgespürt werden sollen.
Iranischen Behörden zufolge soll das NATO-System dazu dienen, Irans Abschreckung gegenüber Israel zu neutralisieren, was somit die Wahrscheinlichkeit eines israelischen oder US-amerikanischen Angriffs auf iranische Atomlagen erhöht. Iranische Funktionäre haben die Türkei sogar gewarnt, dass das Frühwarnsystem in Malatya das erste Ziel eines Vergeltungsschlages für einen Angriff westlicher Länder auf den Iran sein würde.
Real betrachtet verfügt Israel noch über andere Standorte, von denen aus iranische Raketenaktivitäten erkannt werden können. Deshalb ist die iranische Drohung eher Ausdruck seines Unmutes gegenüber der Türkei als eine ernsthafte Sorge, dass das Frühwarnsystem in Malatya seine Abschreckungskapazitäten beeinträchtigen wird.
Die iranisch-türkischen Spannungen werfen ein Licht auf drei umfassendere Realitäten in der Region. Erstens haben der Arabische Frühling und insbesondere der Aufstand in Syrien die zugrundeliegende Rivalität beider Seiten um Einfluss im Nahen Osten und in der arabischen Welt offenbart.
Zweitens ist die Hinwendung der Türkei zum Osten nicht ideologisch oder religiös motiviert, sondern entspringt einem logischen strategischen und ökonomischen Kalkül. Im weiteren Entwicklungsverlauf im Nahen Osten wird die Türkei ihre Politik entsprechend anpassen. Abschließend hat die Türkei viel zu viel in ihre strategischen Beziehungen zur NATO und insbesondere zu den USA investiert, als dass sie diese im Gegenzug für zweifelhafte Vorteile aus dem Verhältnis zum Iran vergeuden würde.
Das bedeutet nicht, dass sich die Türkei erneut in ihre traditionelle strategische Abhängigkeit von den USA und ihren Verbündeten begeben wird – eine Vorgehensweise, die die türkische Außenpolitik während des gesamten Kalten Krieges und des darauffolgenden Jahrzehnts bestimmt hat. Die AKP-Regierung ist der strategischen Autonomie des Landes und dem stärkerem Engagement im Nahen Osten verpflichtet. Sie ist sich allerdings auch bewusst, dass eine derartige Politik nicht auf Kosten der Beziehungen zur NATO und zu den USA gehen darf.
Die Türkei steht daher vor der gewaltigen Aufgabe, ihre alte Beziehung zum Westen aufrechtzuerhalten und gleichzeitig neue Beziehungen zu den muslimischen Nachbarn aufzubauen. Die türkische Führung hat begriffen, dass das Land seinen Einfluss auf beide Seiten am besten erhalten und stärken kann, indem es gute Beziehungen zu beiden unterhält.
Mohammed Ayoob
© Project Syndicate 2012
Mohammed Ayoob ist Professor für Internationale Beziehungen an der Michigan State University in den Vereinigten Staaten.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de