Zeitreise zum Bosporus
Die stadtplanerischen Neuigkeiten aus Istanbul geben selten Anlass zur Freude: Viertel um Viertel wird abgerissen, historische Bauten verschwinden, eine neo-osmanische, kostspielige Sterilität in der Architektur breitet sich aus.
Der Eingang zum Goldenen Horn wird mit Betonpfeilern für die nächste Brücke über den Bosporus zugebaut und James Bond fährt mit Billigung des Tourismusministers den antiken Basar zu Bruch. Subtiler geht es offenbar nicht. Am liebsten, soviel Nostalgie sei einem gelegentlich gegönnt, würde man die Stadtplaner in die Spuren Orhan Pamuks schicken und aus Büchern ganze Stadtviertel (wieder) errichten lassen.
Der Bücherherbst 2012 lieferte dazu die Vorlage. Gleich zweimal ließ er ein längst vergangenes Istanbul großartig auferstehen. Vielmehr noch als heute war die damals noch unter der Millionengrenze angesiedelte Metropole Mitte des 20. Jahrhundert eine Stadt am Wasser, das Hauptverkehrsmittel die Fähre. Brücken über den Bosporus gab es nicht, nur die damals noch schwimmende Galata-Brücke über das Goldene Horn existierte bereits.
Das Istanbul der kleinen Leute
In jene Welt entführt die im Berliner binooki-Verlag unter dem Titel "Fast eine Geschichte" erschienene Kurzprosa von Metin Eloğlu ebenso wie die bei Manesse in Zürich veröffentlichten "Geschichten aus Istanbul", eine Auswahl aus Sait Faiks wegweisenden literarischen Miniaturen.
Beide Bände widmen sich dem einfachen Istanbul der kleinen Leute: Lastenträger, Fischer, Kaffeehausexistenzen, Fabrikarbeiter, Arbeitslose, zerbeulte Lebenskünstler, Betrüger und Betrogene, Verliebte und Verratene. Beide sind sie aus unverschämt männlicher Perspektive geschrieben – wobei Sait Faik auch erotisches Interesse unter Männern thematisiert, und Eloğlu eindeutig der großspurigere Macho ist. Trotzdem ist die Lektüre durchaus auch für Zartfühligere geeignet, sind die Charaktere doch so nah an gewissen menschlichen Grundeigenschaften gebaut, dass man noch in jedem einen Verwandten des eigenen Alter Ego erkennt.
Sait Faik (1906-1954) gilt neben Sabbahatin Ali als Erfinder der türkischen Short Story, sein schlackenloser, so direkter wie luzider Stil als prägend für die moderne türkische Literatur. Die Geschichten des etwas jüngeren Metin Eloğlu (1927-1985), der in der Türkei vor allem als Lyriker bekannt ist, sind denen Sait Faiks stilistisch wie thematisch verwandt, dabei jedoch ohne Scheu vor vordergründig realistischen Themen und Stimmungen.
Eloğlus sehnsuchtstrunkene Figuren werden gelegentlich zu erklärten Zeugen gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen und Missstände, kritisieren etwa den Bau von Gefängnissen statt Krankenhäusern und gründen Arbeitslosenvereinigungen.
Absage an den Nationalismus
Bei Sait Faik sind die Figuren dagegen schicksalsergebener, die sozialen Verhältnisse eher gleichnisartig und etwas weniger explizit politisch formuliert. Trotzdem gibt er sich, gerade was den ethnischen Nationalismus der türkischen Republik angeht, bei weitem nicht konformistisch. Zu seinen Protagonisten zählen Armenier, Griechen, Juden, muslimische Fabrikarbeiter, orthodoxe Pfarrer oder auch diskriminierte Petersfische.
In zwei aufeinander folgenden Abschnitten aus "Menschen am Strand" lässt er seinen Ich-Erzähler zunächst bekennen: "Ich ergreife nun mal nicht gern Partei, was soll's", um dann fortzufahren, es schiene ihm, "man könne aus einem Zigeunerviertel stammen und trotzdem ein rechter Kerl werden, oder aber aus Paris und ein rechter Esel".
Das ist nicht nur eine Absage an ausgrenzenden Nationalismus, sondern auch ein lustvoller Hieb an die Adresse der Paris-orientierten High Society des damaligen Istanbul. Und um hier noch einmal den städtebaulichen Aspekt einfließen zu lassen: Auch das weltweit älteste Roma-Viertel Sulukule ist seit 2008 der Bauwut der modernen Metropole zum Opfer gefallen.
Die Kurzgeschichte gilt nicht umsonst als große literarische Herausforderung. Relativ wenigen gelingt es, sich mit dieser schlanken Form ins literarische Gedächtnis einzuschreiben. Jetzt erinnern die neuen Übersetzungen daran, dass die türkische Kurzgeschichte eindeutig Weltrang besitzt. Und dass an der Seite von Sait Faik auch Metin Eloğlu ein Platz in der illustren Reihe von prägenden Autoren gehört, in der E.T.A. Hoffman, Edgar Allen Poe, Sherwood Anderson, Ernest Hemingway oder auch Franz Kafka und Bruno Schulz zu nennen sind.
"Zahmer Wahn"
Dabei sollen Metin Eloğlu, der zur poetischen Verdichtung, und Sait Faik, der zur voyeuristischen Distanz tendiert, hier als Autoren nicht in einen Topf geworfen werden. Trotzdem muss es erlaubt sein, ihre Gemeinsamkeiten als Schöpfer von teils zeitgleich und in sehr ähnlichem Milieu entstandener Prosa zu unterstreichen.
Auch die ausgesprochene Trinkfreudigkeit beider Autoren lässt sich dazu zählen. Sie hat sicher zur ein oder anderen Geschichte den Zugang verschafft. So kann auch fast ihrem gesamten Figuren-Klientel eine Qualität bescheinigt werden, die Sait Faik den Themen der byzantinischen Gesänge zugeschrieben hat: "zahmer Wahn".
Darüber hinaus ist beider Ton lässig bis schnoddrig, selbstironisch, narzisstisch und vor allem wunderbar humorvoll. Ihre besondere Kunst liegt darin, sich nicht selten einen Witz auf Kosten ihrer Protagonisten – die oft auch autobiographische Züge tragen – zu gönnen, ihnen aber trotzdem niemals die Würde zu nehmen.
Gerüche, Geschmäcker, Farben
Immer wieder entstehen in beiden Bänden auch großartig hingeworfene Naturbilder und Stillleben vor dem Auge des Lesers. Einerseits steckt die hölzerne, bäuerliche Sinnlichkeit eines Cezanne in diesen Geschichten. Gleichzeitig oszilliert eine barocke Vollmundigkeit hindurch, intensivste Gerüche, Geschmäcker und Farben: Veilchen-, Sellerie- und Kuddelnduft, Lindenblüten und Schweiß, Seife in alten Holzschränken, in Zuckerwasser geschwenkte frische Erdbeeren, Fische, Meeresluft.
Die Übersetzungen von Gerhard Meier und Ute Birgi-Knellessen haben für diese sinnliche Prosa jeweils einen sehr ansprechenden Ton gefunden. Bei Meier klingt er etwas akademischer, bei Birgi-Knellessen verspielter und noch charakteristischer.
Übersetzungen in weitere Sprachen sind unbedingt zu empfehlen: In die Nachttischchen von zugebauten, fensterlosen Hotels verteilt, könnten sie jeden Istanbulaufenthalt zu einem unvergleichlichen Leseerlebnis machen.
Astrid Kaminski
Metin Eloğlu: "Fast eine Geschichte". Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen. binooki Berlin 2012.
Sait Faik Abayiyanik: "Geschichten aus Istanbul". Übersetzt von Gerhard Meier. Manesse Verlag Zürich 2012.
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de