Tief sitzende Angst
"Ruhe bewahren!" - so lautet das Gebot der Stunde auf der Krim, wo in diesen Tagen ein falsches Wort, eine falsche Bewegung verheerende Folgen haben könnte. "Ruhe bewahren!" aber heißt es auch im gut 1.000 Kilometer entfernten Ankara. Denn was auf der Krim geschieht, dürfte über kurz oder lang auch für die Türkei – Heimat von Millionen Krimtataren – Folgen haben.
Ausländische Kräfte könnten aus der Krim-Krise zuerst eine tatarisch-russische und schließlich eine türkisch-russische Krise machen wollen, warnte der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu bei seinem Kiew-Besuch vor wenigen Tagen. "Das werden wir nicht zulassen!", machte er klar und fügte dennoch hinzu: "Die territoriale Integrität, der Frieden und die Stabilität in der Ukraine sind der Türkei äußerst wichtig. Gerade die Krim bedeutet uns viel, weil sie das Tor zur Ukraine darstellt, aber auch wegen der dort lebenden Krimtataren und dem türkischen Erbe."
Celal Icten ist dankbar für diese Worte seines Außenministers, so diplomatisch und wenig konkret sie auch sein mögen. "Die Türkei kann und muss in diesem Konflikt eine aktive Rolle spielen", betont der Vorsitzende der Istanbuler Vereinigung der Krimtataren. Schließlich sei seine Volksgruppe ein Turkvolk, gelte als kleiner Bruder der Türken. Und nun sei sie in Gefahr!
Verfolgt und vergessen
Seit Beginn der Krim-Krise rufen Celal Icten und andere Vertreter der türkischen Krimtataren die Regierung in Ankara um Hilfe an. Denn für sie ist die Situation eindeutig: Je mehr Macht die Russen über die seit 1954 ukrainische Halbinsel erlangen, desto gefährlicher wird es für die dortige krimtatarische Minderheit. "Wir fürchten um das Leben unserer Verwandten dort", so Icten.Bis zu sieben Millionen Krimtataren lebten heute in der Türkei, glaubt der 59-Jährige. Gezählt hat sie seit dem Jahr 1927 keiner. Und doch ist zumindest klar, dass es um ein Vielfaches mehr sind, als auf der Krim selbst. 45 Vereine erhalten ihr Erbe in der Türkei aufrecht, organisieren Schüleraustausche zwischen der alten und der neuen Heimat, veranstalten Kulturabende oder Lesungen – und sehen sich nicht zuletzt als Interessenvertreter und Beschützer ihrer Verwandten auf der Krim.
Auf die Russen sind Exilanten wie Celal Icten nicht gut zu sprechen. Wie viele andere Krimtataren glaubt er, dass Putin die aktuelle Krise bewusst verschärft, um eine militärische Intervention auf der Krim zu rechtfertigen. "Warum sollten wir diese Typen mögen?", braust er in seinem Sessel auf. "Wir sind heute eine Nation, die größtenteils weit weg von ihrer Heimat lebt. Dabei haben wir doch einen Ort, an den wir gehören: Die Krim ist unser Land!"
Tatsächlich gelten seine Vorfahren unter Historikern als Ureinwohner der Krim. Dass sie heute nur noch knapp zwölf Prozent der Halbinsel im Süden der Ukraine ausmachen, liegt vor allem an den zahlreichen Auseinandersetzungen mit den Russen, die immer wieder zu Fluchtwellen in das damalige Osmanische Reich führten. Das letzte große Trauma erlitten die Krimtataren, als Stalin ihnen 1944 vorwarf, Kollaborateure der deutschen Wehrmacht zu sein und mehr als 180.000 von ihnen zur Zwangsarbeit nach Sibirien und Zentralasien deportierte. Tausende starben damals auf grausame Weise in überfüllten Zügen.
"Keiner von ihnen bekam auch nur ein Grab oder eine Beerdigung", klagt Celal Icten in Istanbul. Auch nachdem den Überlebenden 1988 die Rückkehr auf die Krim erlaubt wurde, blieben Unzählige im Exil, wo sie sich längst ein neues Leben aufgebaut hatten. Celal Icten nimmt ein Einmachglas aus einer Vitrine. Erde von der Krim hat er darin gesammelt. Mehrmals im Jahr pendelt er zwischen Istanbul und der Heimat seiner Vorfahren hin und her. Deren Sprache spricht er selbstverständlich fließend, ihre Geschichte kennt er fast besser als die türkische.
"Wir Krimtataren sind Europäer"
Eine Ablösung der Krim von der Ukraine und eine Annäherung an Russland, wie dies seit einigen Tagen droht, wäre "das Ende der Krimtataren", verkündete vergangene Woche Tuncer Kalkay, Vorsitzender der Krimtataren-Vereinigung in Ankara. Celal Icten stimmt ihm zu. "Wir Krimtataren sind Europäer", betont er ein ums andere Mal. Und als solche fordern sie eine Krim, die der Ukraine nahe steht und nicht Russland. "Schauen Sie doch nach Russland", schimpft er. "Sehen Sie sich an, wie dort die Wolgatataren leben. Sie bekommen keine Bildung in ihrer eigenen Sprache, ihr Spracheninstitut an der Uni wurde geschlossen, sie sollen sich assimilieren! Oder gucken Sie, was in Tschetschenien passiert ist...!"
Der Hass auf die Russen wird den Krimtataren in der Türkei bereits sehr früh beigebracht, mehr noch als ihren Verwandten auf der Krim selbst, die sich trotz allem immer wieder mit dem großen Nachbarn arrangieren mussten und zuletzt friedlich mit der russischen Mehrheit auf der Halbinsel zusammenlebten. Doch Celal Icten ist viel beschäftigt in diesen Tagen – Demonstrationen, Politikertreffen, Presseerklärungen. Die türkischen Krimtataren werden nicht müde, auf die missliche Lage ihrer Verwandten aufmerksam zu machen.
Trotz der jüngsten hoffnungsvollen Worte des türkischen Außenministers für die Krimtataren bleibt das politische und wirtschaftliche Risiko für Ankara groß. Die langjährigen guten Beziehungen zu Russland stünden bei einem zu offensichtlichen Eingreifen in den Konflikt auf dem Spiel. Und das in einer Zeit, in der der Erdogan-Regierung im internationalen Umfeld immer mehr die Verbündete abhanden kommen.
Luise Sammann
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de