Keine Exitstrategie für Gaza
Wo und vor allem wie geht es zum Ausgang? Das ist derzeit die virulenteste Frage, die sich rund um die israelische Offensive in Gaza stellt.
Denn selbst, wenn der neuste, von US-Präsident Joe Biden vorgestellte Vorschlag für einen Waffenstillstand tatsächlich Formen annimmt und sowohl von Israel als auch von der Hamas angenommen wird, klammert er eine wichtige Frage aus: Was passiert, wenn - wie in drei Phasen vorgeschlagen - die Waffen schweigen, israelische Geiseln und palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen ausgetauscht sind und sich die israelische Armee tatsächlich aus dem Gazastreifen zurückzieht und der Wiederaufbau beginnt? Wer übernimmt dann dort die Verwaltung, wer sorgt für Sicherheit? Diese Frage bleibt im Biden-Vorschlag ungeklärt.
Von Seiten des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu ist immer noch von der Eliminierung der Hamas die Rede. US-Präsident Biden hat das Ganze heruntergeschraubt, um Netanjahu den neuen Waffenstillstands-Vorschlag schmackhaft zu machen und spricht davon, dass es Israel geschafft habe, die Kapazitäten der Hamas so weit zerstört zu haben, dass ein weiterer 7. Oktober nicht mehr möglich sei.
Unrealistische Kriegsziele
Eines ist klar. Wenn Israel sich auf den Deal einlässt, dann hat es seine ursprünglichen Kriegsziele von der Zerstörung der Hamas aufgegeben. Sie waren ohnehin von Anfang an unrealistisch. Laut einem Bericht von Politico vom letzten Monat, der sich auf Aussagen aus US-Geheimdienstkreisen stützt, sollen bisher dahin gerade einmal ein Drittel der Hamas-Kämpfer, die seit dem 7. Oktober aktiv waren, getötet worden sein, während 65 Prozent der von der Hamas verwendeten Tunnel noch intakt seien und die Hamas in den letzten sieben Monaten tausende neue Kämpfer rekrutiert habe.
Ursprünglich hatte Netanjahu seine jüngste Militäroffensive gegen die Stadt Rafah auch damit gerechtfertigt, dort die vermeintlich letzten vier Hamas-Bataillone auszulöschen. Es sollte so etwas wie seine letzte Karte sein, die er bei der israelischen Militäroffensive in Gaza ausspielt.
Dies hat bisher aber nur dafür gesorgt, dass nach UN-Angaben erneut eine Million Menschen aus Rafah vertrieben wurden. Aber statt die Hamas in Rafah endgültig zu zerstören, hat sich die israelische Armee erneut wieder mit der Hamas im Jabaliya-Flüchtlingslager im Norden des Gazastreifens in Kämpfe verstrickt.
Es waren die bisher heftigsten seit Beginn des Krieges, in einem Gebiet, das die israelische Armee vor Monaten als "unter Kontrolle" erklärt hatte. Inzwischen hat sich die israelische Armee auch dort wieder zurückgezogen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Hamas dort wieder einzieht. Alle Versuche der israelischen Armee, die Hamas zu zerstören, gleichen jemandem, der Wasser aus einem löchrigen Boot schöpft.
Pläne für die Nachkriegszeit
Es ist ein Problem, wie es vielen Militärs immer wieder begegnet. Sie werden von der Politik in einen Krieg geschickt, melden große Anfangserfolge und dann hat die Politik für sie keine Exitstrategie.
Das US-Militär musste diese Lektion im Irak und zuletzt schmerzhaft in Afghanistan lernen. Israel hat diese Misere schon einmal beim Krieg gegen die Hisbollah im Libanon 2006 erlebt, in dem die allmächtige israelische Armee die schiitische Hisbollah nicht besiegen konnte, die seitdem in Beirut mit an der Macht sitzt. Und jetzt steht die israelische Armee im Gazastreifen auch an diesem Punkt.
Dabei kursieren die wildesten Pläne für die Nachkriegszeit. Mal ist die Rede davon, dass ein privates Sicherheitsunternehmen (ein anderes Wort für Söldner) beispielsweise den Grenzübergang von Rafah übernehmen könnte. Dann wird diskutiert, ob eine EU-Mission diese Aufgabe am Grenzübergang übernehmen soll, wobei völlig unklar bleibt, wer hier die palästinensischen Partner sein sollen.
Dann kursiert in den israelischen Medien die Version, dass nicht die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland (PA) die Macht im gesamten Gazastreifen übernehmen soll, sondern eine nicht weiter definierte Gruppe von Palästinensern, die nicht mit der Hamas in Verbindung stehen soll. Die PA sollte dabei bestenfalls eine inoffizielle Rolle spielen, was sie jedoch bereits abgelehnt hat.
Wer füllt das Machtvakuum?
Dann ist wieder die Rede von einer internationalen oder arabischen Friedenstruppe, die das Machtvakuum in Gaza jenseits der Hamas füllen soll.
Alle diese Szenarien haben einen großen Haken. Bisher wollen weder Netanjahu noch dessen Rivale im Kriegskabinett, Benny Gantz, noch Verteidigungsminister Galant in einer Nachkriegszeit die israelische Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen aufgeben.
Dieser soll weiterhin vom Rest der Welt absperrt bleiben. Israel will weiterhin nicht nur alles kontrollieren, was dort raus und rein geht, sondern auch den Luftraum über und die See vor dem Gazastreifen. Also kurzum: Israel will den Status quo beibehalten, der schon vor dem Krieg seine Sicherheit nicht garantieren konnte, wie der blutige 7. Oktober allen Israelis schmerzlich vor Augen geführt hat.
Zusätzlich gibt es nun den bereits fertiggestellten israelischen Netzarim-Sicherheitskorridor im zentralen Teil des Gazastreifens. Dabei handelt es sich um eine Schneise zwischen der israelischen Grenze und dem Mittelmeer, die den Gazastreifen in einen nördlichen und südlichen Teil trennt und die der israelischen Armee einen schnellen Zugang zu dem Gebiet garantiert.
Je nach Bedingungen hält sich die israelische Armee das Recht vor, weiter militärische Razzien durchzuführen oder gar zu bombardieren. Mit anderen Worten: Die israelische Besatzung des Gazastreifens soll auch nach einem vollendeten Waffenstillstands-Deal beibehalten werden.
Ökonomie der Disparitäten
In seinem Buch "Die politische Ökonomie der israelischen Besatzung" analysiert der israelische Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever den Zusammenhang von Ökonomie und Friedensprozess im Nahen Osten. Martina Sabra hat das Buch gelesen und sich mit Shir Hever unterhalten.
Keine Friedenstruppe in Sicht
Unter diesen Bedingungen wird sich aber niemand, weder irgendwelche nicht mit der Hamas verbundenen Palästinenser noch die Palästinensische Autonomiebehörde noch irgendeine arabische oder internationale Friedenstruppe dafür hergeben, für Israel den Polizisten in Gaza zu spielen.
Denn was als nächstes geschehen würde, ist vollkommen vorhersehbar. Wer immer diese Rolle übernehmen würde, würde von den Palästinensern im Gazastreifen, ob Hamas-Anhänger oder -Gegner, als Kollaborateur der israelischen Besatzung angesehen.
US-Außenminister Antony Blinken sagte letzten Monat in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CBS, dass die USA seit vielen Wochen daran seien, einen glaubwürdigen Plan für die Nachkriegszeit in Gaza auszuarbeiten, bis ein Sicherheitsapparat jenseits der Hamas aufgebaut ist. Die Financial Times berichtet, die USA stünden offensichtlich mit einigen arabischen Staaten über eine mögliche arabische Friedenstruppe in Gaza im Gespräch, die nach einem Ende des Krieges das Sicherheitsvakuum dort füllen soll.
Die Financial Times bezieht sich dabei auf Gespräche mit nicht namentlich genannten westlichen und arabischen Offiziellen. Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Marokko, heißt es dort, würden über eine Teilnahme an einer arabischen Friedenstruppe nachdenken. Saudi-Arabien soll gleich abgelehnt haben.
Dabei kann es sich aber nicht um viel mehr als Sondierungsgespräche gehandelt haben, denn es gibt dafür bisher von keinem dieser arabischen Länder eine offizielle Bestätigung oder eine öffentliche Diskussion über eine Friedenstruppe.
Zweistaatenlösung: ein echter Ausweg
Das Ganze scheint derzeit nicht über unverbindliche Gedankenspiele hinauszugehen und ist bestenfalls ein Testballon. Und selbst da haben die anonymen arabischen Gesprächspartner offensichtlich die Bedingung gestellt, dass eine arabische Teilnahme an einer möglichen Friedenstruppe nur denkbar wäre, wenn sie mit irreversiblen Maßnahmen für eine Zweistaatenlösung einherginge.
Und da beißt sich die Katze wieder in den Schwanz, da ein möglicher palästinensischer Staat im Gazastreifen und Teilen der Westbank nicht nur von Netanjahu, sondern auch von einer Mehrheit der israelischen Bevölkerung kategorisch abgelehnt wird.
So bleiben am Ende alle Nachkriegsideen nichts weiter als Rohrkrepierer. Fakt bleibt, der Gazastreifen ist zwar zu weiten Teilen zerstört, nicht aber die Hamas. Und langsam macht sich die Erkenntnis breit, dass die israelische Besatzung und die totale israelische Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen wohl andauern werden und damit auch die Instabilität nicht nur für Israel und die Palästinenser, sondern für die gesamte Region. Denn am Ende wird sich niemand bei klarem Verstand finden, der unter den gegenwärtigen Bedingungen sicherheitstechnisch und militärisch in Gaza nach dem Krieg den Karren aus dem Dreck ziehen wird.
Der einzige echte Ausweg läge darin, international und unter der Beteiligung der Palästinenser mit Israel eine überlebensfähige Zweistaatenlösung aufzustellen und den Weg und den Zeitrahmen dorthin genau zu definieren.
Als Garantie müsste zuvor das Konstrukt eines palästinensischen Staates international anerkannt werden. Erst wenn dieses Ziel mit internationalen Garantien festgelegt ist, kann auch über ernsthafte und machbare Zwischenlösungen und Sicherheitsarrangements für den Gazastreifen nachgedacht werden, bei denen die Beteiligten nicht den Ruf bekommen, nur der verlängerte Arm der israelischen Besatzung zu sein. Denn diese, das haben wir in den letzten Monaten gelernt, bietet weder den Palästinensern noch den Israelis Sicherheit.
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