„Religion ist die letzte Waffe“
Um das Verhältnis zwischen Recep Tayyip Erdogan und Emmanuel Macron steht es nicht zum Besten. „Es gibt immer eine Polemik zwischen den zwei Präsidenten, am Telefon und vor der Presse“ schrieb Burhanettin Duran kürzlich in der regierungsnahen türkischen Tageszeitung Daily Sabah.
Es sei bekannt, so verrät der Kolumnist mit gutem Zugang zum Präsidentenpalast, dass „Erdogan Macron am Telefon über die Weltpolitik und die französische Geschichte belehrt“. Dabei gehe es nicht immer herzlich zu, verrät Duran. Erdogan halte wenig von seinem französischen Kollegen. Dieser sei „unerfahren“ und „naiv“.
Der Kommentar erschien vor wenigen Wochen. Heute würde er womöglich schärfer ausfallen. Die türkisch-französischen Rededuelle auf höchster politischer Ebene sind ein Ausdruck der zerrütteten politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern.
„Die Türkei hat eine kriegerische Haltung gegenüber ihren Nato-Verbündeten“, sagte Emmanuel Macron kürzlich in einem Interview des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera.
Dass der Franzose ausgerechnet den Sender im Golfstaat Katar für seine Tiraden gegen Ankara wählte, entbehrt nicht der Pikanterie: Doha zählt zu den wenigen verbliebenen Verbündeten Erdogans in der arabischen Welt. Macron nutzte die Sendezeit, um die Gemüter nach seinem kategorischen Bekenntnis zur Meinungsfreiheit im erneut aufgeflammten Konflikt um die Mohammed-Karikaturen zu beruhigen.
Im Vordergrund standen allerdings die Breitseiten gegen Erdogans Türkei. Dieser hatte zuvor das Seine getan, um die Lage anzuheizen. Es sei sein Wunsch, dass sich die Situation entspanne, sagte Macron. Voraussetzung sei allerdings, dass der „türkische Präsident Frankreich respektiert, die Europäische Union und ihre Werte respektiert und aufhört, Lügen und Beleidigungen zu verbreiten“.
Macron versteht sich darauf, auszuteilen, das wurde hier abermals deutlich. Sein Gegenüber in Ankara steht ihm darin nicht nach. Mehrmals hat der türkische Präsident dem Franzosen öffentlich nahegelegt, er solle seinen Geisteszustand medizinisch untersuchen lassen.
Auslöser der wenig schmeichelhaften Empfehlung war Macrons viel zitierte Rede, in der er bekanntgab, er wolle gegen den „islamistischen Separatismus“ in Frankreich vorgehen.
„Faschistisches Drehbuch“
Als Reaktion forderte Erdogan die türkische Bevölkerung zum Boykott französischer Produkte auf. Auch Europa sei gefordert, so Erdogan: „Europäische Politiker müssen Macron, der den anti-muslimischen Hass anführt, auffordern, seine Politik zu ändern.“
Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, der die Aufgabe hat, die Gedanken des Chefs auch einem internationalen Publikum vertraut zu machen, legte nach: „Macrons anti-islamische Rhetorik ist ein weiterer Versuch eines verzweifelten Politikers, Relevanz zu belegen.“
Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit und die Angriffe gegen Erdogan seien Instrumente Macrons, um die Führung in Europa zu übernehmen, so die Analyse des Präsidentensprechers. Damit nicht genug: „Macron bedient sich des alten faschistischen Drehbuches, das auf Juden in Europa abgezielt hat.“
Der Bezug auf das Schicksal der Juden in Europa in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist in diesem Zusammenhang ein wiederkehrendes Motiv in Berichten und Kommentaren der regierungsnahen türkischen Medien.
„Juden waren vor 100 Jahren das Ziel des Rassismus der extremen Rechten, und nun richtet sich der Rassismus gegen Muslime in Europa“ , schreibt Hilal Kaplan in Daily Sabah unter der Überschrift „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, außer (für) Muslime“.
Der türkisch-französische Konflikt geht weit über die offenkundigen Meinungsverschiedenheiten bei der Lage der Muslime in Frankreich hinaus.
Paris und Ankara liegen in zentralen außenpolitischen Fragen über Kreuz: „Der aktuelle Krieg der Worte ist Teil einer größeren Konfrontation zwischen Erdogan und Macron“, schreibt Burhanettin Duran. „Nach Syrien, dem östlichen Mittelmeer, Libyen und Bergkarabach befeuert jetzt das Islam-Thema die Spannungen der beiden Politiker. “
Macron suche nach „Ausreden“, um die Europäische Union auf Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei einzustimmen. Ganz ohne Verweis auf die persönliche Dimension kommt die Argumentation des Kommentators nicht aus: Der französische Präsident – so Durans Analyse – versuche verzweifelt, sich „für die ihm beigebrachten Niederlagen in Nordafrika, dem östlichen Mittelmeer, Syrien und dem Kaukasus an Erdogan zu rächen“.
Der Kommentator suggeriert, dass Ankara in den besagten Krisen- und Konfliktherden als Sieger vom Platz gegangen sei – und Frankreich Niederlagen zugefügt habe, was in dieser Klarheit keineswegs der Fall ist.
Die Textpassage ist ein gutes Beispiel für den in regierungsnahen türkischen Medien praktizierten Triumphalismus, der an den Tatsachen vorbeigeht, gleichwohl – wie dies gemeinhin bei systematischer Desinformation der Fall ist – nicht ohne Einfluss auf die Perzeption vieler Menschen in der Türkei bleibt.
Differenziertes Meinungsspektrum
In der Kommentierung der türkischen Außenbeziehungen vertritt Burhanettin Duran konsequent das Lager der Regierungstreuen. Doch allen medienpolitischen Gleichschaltungsbemühungen zum Trotz behaupten sich gleichwohl eine Reihe unabhängiger, alternativer Stimmen.
Auch in der Frankreich-Frage, die nicht zuletzt in den sozialen Medien für viel Diskussionsstoff sorgt, ist ein durchaus differenziertes Meinungsspektrum erkennbar.
In einem bemerkenswerten Kommentar des Online-Portals DuvarE argumentiert Sezin Öney, dass Erdogan den Konflikt mit Paris mit einer strategischen Absicht eskaliere: „Erdogan sucht den Kampf mit Macron, weil er Öl ins Feuer gießen will.“
Im Vergleich dazu sei der Konflikt mit Griechenland ein Spiel, das der Präsident nach Belieben eskalieren und deeskalieren könne, gleichsam als Verhandlungsmasse gegenüber der EU. „Die Spannung mit Frankreich ist echt, denn sie ist ideologisch“, argumentiert Öney.
Die Autorin verweist darauf, dass der türkische Präsident erst kürzlich sein wahres Gesicht gezeigt habe, als er die Türkei in einer Rede „als den aufsteigenden Stern einer neuen Weltordnung“ bezeichnet hat.
Die aggressive Qualität der türkischen Außenpolitik in der Region ist schwer zu übersehen. Erdogan, da sind sich die Beobachter – und auch die Regierungen der EU und in vielen Teilen der arabischen Welt - einig, schickt sich an, das durch den Rückzug der Amerikaner entstandene Vakuum zu füllen.
Diese Vorwärtsstrategie kommt in Teilen der türkischen Bevölkerung gut an. Ein häufig bemühtes Argument, das Meinungsforscher bestätigen, lautet, Erdogan betreibe eine offensive Außenpolitik, um von innenpolitischen Schwierigkeiten und sinkenden Umfrageergebnissen abzulenken.
Isolation in der arabischen Welt
Politisch-diplomatisch bezahlt Ankara einen hohen Preis für diese Strategie. Jenseits der Landesgrenzen ist die Türkei heute so isoliert wie lange nicht. In Europa und der EU ist Erdogan weitgehend auf sich allein gestellt. Die Verbalattacken gegen Macron werden hier kaum als Wiedergutmachung empfunden.
Schmerzhaft für den Präsidenten ist auch seine Isolation in der arabischen Welt. Hier hat sich unter der Führung von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten ein mächtiger Anti-Erdogan-Block gebildet, der nun seinerseits mit Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei zu Felde ziehen will.
In der „neuen Weltordnung“ sähe sich der fromme Erdogan gerne als Anführer der muslimischen Welt. Diese Vision erklärt die verbale Eskalation mit dem französischen Präsidenten. Die Rechnung ist bisher nicht aufgegangen. Wenig deutet darauf hin, dass sich das bald ändern wird.
„Religion ist die letzte Waffe“, resümiert der Journalist Fehim Tastekin, nachdem er die Probleme der türkischen Wirtschaft und die wachsende Isolation Ankaras angeführt hat. Erdogans Politik habe in Europa vor allem die Stimmung gegen Migranten und Muslime angefacht und dem rechten Spektrum in die Hände gespielt.
Populär sei dies bei den Betroffenen keineswegs. Diese Meinung teilt der frühere EU-Botschafter in Ankara, Marc Pierini: „Selbst die Muslime in Frankreich haben die Nase voll von Erdogan.“
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Ronald Meinardus leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul. Davor war er Leiter des Regionalbüros Südasien der Stiftung.