Wieder auf Kooperationskurs
Seit mehr als einem Jahrzehnt befinden sich Syrien und die Türkei in einem militärischen Konfliktzustand. Nun arbeiten Ankara und Damaskus daran, ihre Streitigkeiten beizulegen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat erklärt, er könne sich gut vorstellen, mit seinem syrischen Amtskollegen Baschar al-Assad wieder – wie früher – konstruktiv zusammenzuarbeiten. Assad bekundete daraufhin ebenfalls Interesse an einer Verbesserung der Beziehungen. Neben diesen positiven Signalen bietet derzeit auch die geopolitische Konstellation Anreize für eine Beilegung des Konflikts. Auch haben sich viele Konfliktursachen entschärft.
Die türkischen Streitkräfte kontrollieren im Norden Syriens drei verschiedene Gebiete, in denen Städte wie Afrin, al-Bab, Dscharablus, Tel Abjad und Ras al-Ain liegen. Die Militäroperationen der Türkei (2016/17, 2018, 2019) sowie die Besatzung Nordsyriens werden von der internationalen Staatengemeinschaft überwiegend als völkerrechtswidrig betrachtet. Zugleich ist aber eine Verurteilung seitens der Vereinten Nationen ausgeblieben(1). In dem türkisch kontrollierten Gebiet will Ankara syrische Flüchtlinge ansiedeln, deren Zahl in der Türkei auf über drei Millionen gestiegen ist. Die syrische Regierung ihrerseits ist bestrebt, die territoriale Integrität des Landes wiederherzustellen, und fordert, dass die türkischen Truppen abziehen.
Konflikte wie diese kannten die beiden Länder in der jüngeren Vergangenheit nicht. Zwischen 2001 und 2011 hatten sich die bilateralen Beziehungen in nahezu allen Bereichen intensiviert. Der Handel verzeichnete einen Anstieg von 744 Millionen US-Dollar (2001) auf 2,1 Milliarden US-Dollar (2011), wobei die Türkei einen Überschuss von 1,1 Milliarden US-Dollar erzielte. Im Dezember 2010 trafen sich Vertreter Syriens, Libanons, Jordaniens und der Türkei auf einem Gipfel in Istanbul, um ein Freihandelsabkommen auszuhandeln. Im Januar 2011 bezeichnete die türkische Tageszeitung Hürriyet die Beziehungen zwischen Syrien und der Türkei als „Modellpartnerschaft”. Auch der Wert von Besitzungen türkischer Staatsbürger in Syrien stieg von 40 Millionen US-Dollar auf 10 Milliarden. 2011 besuchten 974.000 Syrer die Türkei, während 1,35 Millionen Türken Syrien besuchten.
Traum eines kurdischen Korridors geplatzt
Doch der Bürgerkrieg in Syrien ab 2011 unterbrach den Kooperationskurs. Die türkische Regierung war zunächst bemüht, Assad von demokratischen Reformen und einer (markt-)wirtschaftlichen Öffnung zu überzeugen. Als der diplomatische Weg aber nicht zum Erfolg führte und sich die Lage in Syrien zuspitzte, setzte die Türkei – im Einklang mit der US-amerikanischen Strategie – auf einen Regimewechsel. Sie erlaubte der syrischen Opposition die Gründung des Syrischen Nationalrats auf türkischem Boden und unterstützte die Syrische Freie Armee bei ihrer Formierung und im Kampf gegen das Assad-Regime.
In der Folge manifestierten sich auch divergierende Standpunkte und Interessenskonflikte zwischen der Türkei und den USA. Ankara beschwerte sich in Washington, dass die USA den Sturz des Assad-Regimes nicht energisch genug verfolgten. Die US-Administration unter Barack Obama wiederum war der Meinung, die Türkei trage nicht genug zum Kampf gegen den „Islamischen Staat” (IS) bei.
Eine Wende in der türkisch-amerikanischen Kooperation in Syrien war die Ermordung des US-Botschafters in Bengasi, Libyen, am 11. September 2012 durch einen Angriff, der zunächst dem Umfeld von Al-Qaida zugeschrieben wurde. Das vertiefte die Meinungsverschiedenheiten zwischen Ankara und Washington in der Frage, welche Gruppen in Syrien unterstützt werden sollten.
Der Beschluss der Obama-Administration 2014, die kurdischen „Verteidigungseinheiten” (YPG), den militärischen Arm der PYD, in ihrem Kampf gegen den IS zu unterstützen und die kurdischen Bodentruppen aus der Luft mit Waffen zu versorgen, erwies sich als Sprengstoff für das türkisch-amerikanische Verhältnis. Ankara seinerseits wertete den US-Vorstoß zur Bewaffnung der YPG als Schlag ins Gesicht.
Unterdessen hatte die YPG die Belagerung von Kobane durch IS-Kampfverbände durchbrochen und stieß in Nordsyrien weiter nach Westen vor. Es fehlten nur noch wenige Kilometer bis zum Mittelmeer und es wäre ein „kurdischer Korridor“ in Nordsyrien entstanden – in der türkischen Rechtfertigungsrhetorik ein „Terrorkorridor”. Damit wäre die Türkei von der arabischen Welt auf dem Landweg größtenteils getrennt gewesen, da kurdische Kräfte auch das Autonomiegebiet im Nordirak kontrollieren.
Für die Türkei galt es, ein derartiges „geopolitisches Desaster” zu verhindern, und Ankara startete im Spätsommer 2016 eine erste Bodenoffensive in Nordsyrien. Ankara befürchtete auch, dass ein kurdisches Autonomiegebiet in Nordsyrien für die Kurden in der Türkei ein attraktives staatliches Gegenmodell darstellen und für die PKK ein militärischer Rückzugsraum werden könnte.
Mit den Offensiven in Nordsyrien, die zur direkten militärischen Kontrolle der drei Gebiete führten, sowie der De-facto-Kontrolle über große Teile der Provinz Idlib (2) hat die Türkei den kurdischen Autonomiebestrebungen ein Ende gesetzt. Vor allem platzte der Traum eines “kurdischen Korridors” von der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak bis zum Mittelmeer.
Gleiche Bedrohungsperzeption
Heute besteht das gemeinsame Interesse der Türkei und Syriens darin, die Loslösung eines von der PYD verwalteten Autonomiegebiets von Syrien auf lange Sicht zu verhindern. Ankara und Damaskus sind besorgt, dass die PYD hierfür den geeigneten Zeitpunkt abwartet. Diese Bedrohungsanalyse bildet eine solide Grundlage für einen bilateralen Kompromiss, steht jedoch im Widerspruch zur Haltung der deutschen Bundesregierung, die das türkische Vorgehen gegen die „syrischen Kurden” missbilligt und darüber hinaus weiterhin keine Voraussetzungen für eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit Syrien sieht.
Für die türkische Regierung besteht eine weitere Priorität in der Entschärfung der Flüchtlingskrise. In der Türkei leben über 3 Millionen Flüchtlinge allein aus Syrien und etwa zwei Million aus anderen Ländern. Währenddessen fehlt es an wirtschaftlichen Kapazitäten, knapp fünf Millionen Flüchtlinge zu integrieren. Vor diesem Hintergrund und anlässlich einer migrationsfeindlichen Stimmung landesweit gewinnt die Ansiedlung syrischer Flüchtlinge in Nordsyrien an Bedeutung. Hierzu bedarf es an Kooperation zwischen Ankara und Damaskus. Assads jüngste Generalamnestie wird als ein Schritt in diese Richtung ausgelegt. Experten zufolge könnte dies die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen aus der Türkei nach Syrien fördern.
Auch aus regionalen Konflikten erwächst eine Dynamik, die eine bilaterale Annäherung als opportun erscheinen lässt. Der Gazakrieg seit Oktober 2023 hat die Nahostregion für den „Westen” geopolitisch aufgewertet, eine „Rückkehr” der USA in die Region ist dadurch wahrscheinlicher geworden. Die aktuellen Spannungen zwischen den USA und Iran sowie die militärische Konfrontation Irans mit Israel – sowohl auf direktem Wege als auch über die iranischen Proxys in der Region – lassen die Schlussfolgerung zu, dass Teheran nicht fähig und willens sein wird, die syrische Regierung entscheidend zu unterstützen. Dies wäre ein weiterer Anreiz für Damaskus, die sicherheitspolitischen Wogen mit der Türkei zu glätten, da eine Annäherung die Position Syriens gegenüber Israel stärken würde, was auch der Türkei zugutekäme.
Ankara wird in Syrien mitreden wollen
Gleichwohl existiert auch eine strategische Ambiguität in der Einstellung Ankaras gegenüber Damaskus. Obwohl Ankara sich mehrmals für die territoriale Integrität Syriens ausgesprochen hat, nähren türkische Verwaltungsstrukturen in Nordsyrien sowie der Aufbau von Infrastruktur (Straßenbau, Wasser- und Stromversorgung, Kommunikationsdienstleistungen etc.) die Befürchtung, dass Ankara eine langfristige Besatzung oder – in einem dafür günstigen Moment – gar die Annexion der türkisch besetzten Gebiete einkalkuliert haben könnte.
Ankara wird wahrscheinlich darauf bestehen, in die Gestaltung Syriens einbezogen zu werden. Die Türkei dürfte darauf drängen, dass Syrien den Status syrischer Turkmenen verbessert, und die türkische Provinz Hatay als Teil der Türkei anerkennt. 1938 führte ein Volksentscheid in der Provinz zum Anschluss an die Türkei, was Syrien bislang nicht anerkannt hat. Schließlich dürfte Ankara auch auf eine Reaktivierung des Adana-Abkommens von 1998 drängen. Dieses verpflichtet die Türkei und Syrien zu enger Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus. Syrien versicherte darin, keine PKK-Aktivitäten auf seinem Territorium zu dulden.
Entscheidend für die Frage einer Annäherung zwischen der Türkei und Syrien wird auch sein, ob die zukünftige US-Administration auf Kooperation mit der PYD setzt oder auf die Türkei zugeht, um sich deren Unterstützung bei einer möglichen Konfrontation mit Iran zuzusichern.
Abschließend lässt sich festhalten, dass Schnittmengen in ihren Bedrohungsanalysen die Türkei und Syrien einander näherbringen. Eine Beilegung des bilateralen Konflikts könnte dazu beitragen, die Stabilität in der Region zu fördern, den Abwanderungsdruck zu mildern und die Steuerung von Migrationsbewegungen zu erleichtern. Dies wäre auch im Interesse der Bundesregierung, da dadurch die Sicherheit Deutschlands gestärkt würde. Allerdings würde dies möglicherweise auch zu einer Veränderung der regionalen Machtbalance führen, was die deutsche Außenpolitik vor neue Herausforderungen stellen könnte.
Anmerkungen:
(1) Zur Rechtfertigung der Militäroperationen berief sich die Türkei auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der VN-Charta und verwies in einem Schreiben an den VN-Sicherheitsrat (20.1.2018) auf eine terroristisch motivierte Bedrohungslage als Folge des syrischen Bürgerkriegs. Nach dem Urteil des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages stellt die türkische Offensive im Ergebnis einen eindeutigen Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta dar.
(2) Die türkische Besatzung steht in der Kritik, vorgeworfen werden »schwere Menschenrechtsverletzungen«, »Kriegsverbrechen« und »Vertreibungen« der dort ansässigen Kurden, Jesiden, assyrischen und armenischen Christen. Der Türkei wird auch zur Last gelegt, die Bevölkerungsstruktur Nordsyriens »zu Ungunsten der kurdischen Bevölkerung sowie der ethnischen und religiösen Minderheiten, der armenischen und assyrischen Christen« zu verändern.
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