Er überlebte das Massaker von Melilla

„Tödlicher Freitag“ (Originaltitel: جمعة الموت) ist ein lebendiges und persönliches Zeugnis des Massakers, bei dem am 24. Juli 2022 am Grenzzaun von Melilla Dutzende Migrant:innen, die meisten aus dem Sudan und dem Tschad, ums Leben kamen.
Es ist das erste literarische Werk, das die Tragödie an der marokkanisch-spanischen Grenze aus der Perspektive eines Überlebenden schildert. Al-Hafiz Tardschok erreichte später Großbritannien und erhielt dort Asyl.
Das Buch, das auf Arabisch im Dezember im Ruaa-Verlag erschienen ist, beschreibt Tardschok als „realistischen Bericht über Situationen, die ich physisch und seelisch durchlebt habe“. Der 26-Jährige wurde in al-Faschir in Nord-Darfur geboren. Im Buch lässt er Hocharabisch mit sudanesischem Arabisch zusammenfließen.
Unterstützt wurde er beim Schreiben vom sudanesischen Schriftsteller Abdelaziz Baraka Sakin. Omar Naji, Präsident der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte (AMDH), half ihm bei der Verifizierung von Informationen über Menschen, die damals in Melilla getötet und inhaftiert wurden oder seit damals verschwunden sind.
Die Geschichte beginnt in Nouadhibou, an der Grenze zwischen Mauretanien und der marokkanisch kontrollierten Westsahara. Dort versammeln sich Dutzende Sudanes:innen – die meisten von ihnen „Ginkgos“, ein sudanesischer Begriff für Saisonarbeiter – in der Hoffnung, am Ende den Grenzzaun von Melilla zu überwinden und nach Europa zu gelangen.
Nachdem die Gewalt gegen Migrant:innen in Libyen 2021 eskaliert war, waren viele sudanesische Migrant:innen von der Route über Libyen abgewichen und hatten versucht, über Marokko nach Europa zu gelangen.
Nach wochenlanger harter Arbeit für die Reisekosten brechen auch Tardschok und fünf Gefährten zu einer gefährlichen Reise durch die Wüste auf, bei der sie mit Hunger, Durst und Militärhunden zu kämpfen haben.
Nachdem er von seinen Freunden getrennt wird, setzt Tardschok seine Reise allein fort. Mit zerrissenen Schuhen versteckt er sich in Wüstendörfern, bis er das Dorf Bir Gandouz und schließlich die Stadt Dakhla an der Atlantikküste erreicht. Nach einem Monat reist er weiter Richtung Norden, über Fkih Ben Salah in die Hauptstadt Marokkos, Rabat.
Die Ankunft bedeutet jedoch nicht das Ende seines Leidens. Das Leben in Rabat bringt neue Härten mit sich – Obdachlosigkeit, anstrengende Arbeit, unvorhersehbare Misshandlung durch die Einheimischen.
Wiederholt versucht Tardschok, im Norden Marokkos die Grenze zu Spanien zu überqueren. Die Versuche enden jedoch mit Repressionen oder Zwangstransport in abgelegene Städte.
„Wir Ginkgos schlafen auf der Straße und verbringen unsere Tage mit der Arbeitssuche. Wir versuchen, genug Geld zu sparen, um einen weiteren Versuch an der Grenze zu unternehmen“, schreibt Tardschok über die anderthalb Jahre, die er in Marokko verbracht hat.

Planung einer Massenüberquerung
An der Grenze zur spanischen Enklave Melilla scheiterten in dieser Zeit wiederholt Versuche Einzelner, den Grenzzaun zu überqueren. In acht marokkanischen Städten schließen sich daraufhin Ginkgos zusammen, koordiniert von einer zentralen Leitung in Casablanca.
Jede Gruppe hat einen Anführer, einen Stellvertreter, einen Schatzmeister und einen Logistikbeauftragten. Gemeinsam entwerfen sie einen konkreten Plan für eine Massenüberquerung.
Der Plan umfasst die Auswahl geheimer Sammelpunkte (Tarkina genannt), die Ausbildung von Mitgliedern zur Beobachtung marokkanischer Grenzbeamter, die Sicherung der Lebensmittelversorgung und den Transport von Migrant:innen in kleinen Gruppen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Tarkina.
Zur Gewährleistung von Disziplin, gründet die Ginkgo-Führung sogar eine Einheit namens „Mafia“. Um den Transport zu seinem Tarkina zu bezahlen, muss Tardschok seine Kleidung und Lebensmittel verkaufen.
Er schließt sich Dutzenden anderen im Nordosten Marokkos an und wartet auf den vereinbarten Zeitpunkt für den Grenzübertritt in die spanische Enklave. Seine konkrete Aufgabe besteht darin, das Grenztor von marokkanischer Seite aus zu öffnen.
Kurz vor dem Massaker, Mitte Juni 2022, kommt es nahe der Grenze zunächst zu Zusammenstößen zwischen Migrant:innen und marokkanischen Sicherheitskräften. Die Ginkgos sind gezwungen, in den nahegelegenen Wäldern Zuflucht zu suchen.
„Wir haben nicht so leicht aufgegeben. Wir sind mit einem Ziel vor Augen aus unseren Ländern gekommen und wollten dieses auch erreichen“, schreibt Tardschok.
Die Ginkgos sind entschlossen nicht zurückzuweichen, doch auch die marokkanischen Streitkräfte sind gut vorbereitet. Am 24. Juni kommt es zu dem Massaker, bei dem laut dem Menschenrechtsverein AMDH 27 Menschen sterben und Dutzende verhaftet werden.
Tardschok beschreibt die Szene: „Es war wie eine Schlacht. Ginkgos wurden durch Gummigeschosse getroffen, teilweise direkt in die Augen, manche bekamen tödliche Schläge auf den Kopf, die die Menschen sofort bewusstlos machten.“
Doch die Tortur war damit noch nicht zu Ende. Überlebende, darunter auch der Autor, wurden körperlich und psychisch gefoltert. „Ich war nur ein Migrant, aber sie behandelten mich wie einen Kriegsverbrecher“, sagt er gegenüber Qantara. „Ich hätte fast mein Augenlicht verloren. Ich musste mit ansehen, wie meine Freunde vor meinen Augen starben.“
Tardschok fühlte sich verpflichtet, seine Erlebnisse zu dokumentieren: „Es war mir egal, ob mein Buch als literarisches Werk angesehen würde. Ich wollte nur nicht, dass meine Rolle in diesen Ereignissen bedeutungslos bleibt.“

Gehen oder bleiben?
Fast 700.000 Menschen mit ausländischem Pass leben in Libyen. Viele von ihnen sind Migranten, die nach Europa weiterreisen wollen. Aufgeben ist für viele keine Option, aber manche bleiben.
Ruf nach Gerechtigkeit
Nachdem Tardschok das Massaker überlebt hat, bleibt er eine Zeit lang in Marokko. Er arbeitet in einfachen Jobs und die Hoffnung, nach Europa zu gelangen, schwindet. Doch letztendlich setzt er seine Reise fort, diesmal über Tunesien.
Im August 2023 setzt er auf die italienische Insel Lampedusa über, reist durch italienische Städte versteckt weiter über die Berge nach Frankreich. Von dort gelangt er nach Calais und schließlich nach Großbritannien, wo ihm Asyl gewährt wird.
„Ich hatte keine andere Wahl. Eine Rückkehr (in den Sudan) war unmöglich“, sagt er und meint damit den brutalen Krieg im Sudan, der Millionen Menschen innerhalb des Sudan und ins Ausland vertrieben hat. Denjenigen, die vor dem Konflikt fliehen, gibt er in seinem Buch folgenden Rat: „Migration ohne klares Ziel ist ein langsamer Selbstmord.“
Tardschok denkt noch immer an die Gefährten, die er während der Ereignisse von Melilla verloren hat. „Meine Botschaft an die Welt ist: In Nordafrika sterben täglich Migrant:innen, fernab des Rampenlichts. Die marokkanischen und spanischen Behörden müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Gerechtigkeit muss gewährt werden. Die Gefangenen müssen freigelassen werden.“
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzung aus dem Englischen von Clara Taxis.
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