Das ganze Leben in nur einer Tasche

Eine Frau mit ihren drei Kindern auf der Straße.
Auf der Flucht vor dem Bombardement: eine Frau mit ihren Kindern, die im Juni 2024 aus Rafah vertrieben wurde (Foto: Qantara/Doaa Shaheen).

Die israelische Offensive in Gaza hat tausende Menschen mehrfach vertrieben. Viele von ihnen haben nur eine Tasche dabei. Darin: Ausweispapiere, einige persönliche Gegenstände und Erinnerungen an ihr altes Leben.

Von Doaa Shaheen

Nima al-Scheich, 60, sitzt im Haus ihres Bruders im Flüchtlingslager Nuseirat im Zentrum Gazas. Über ihr spannt sich ein grauer Himmel, der vom Rauch der Explosionen erfüllt ist. Kürzlich musste sie aus ihrem Zuhause im Dschabalia-Camp im Norden des Gazastreifens fliehen, nachdem die israelische Armee einen Evakuierungsbefehl gegeben hatte.

Al-Scheich, vierfache Mutter und zweifache Großmutter, hält sich an ihrer abgetragenen Reisetasche fest, die sie schon mehrfach geflickt hat. Um die Tasche deutlich zu markieren, hat sie ein Stück Stoff an den Henkel gebunden. Ständig überprüft sie den Inhalt, ist bereit, jeden Moment aufs Neue zu fliehen. „Ich musste seit dem 20. Oktober 2023 mehr als neun Mal fliehen. Die Tasche ist immer dabei. Ich lege sie neben mich, wenn ich schlafen gehe – meine Erinnerungen an mein zerstörtes Zuhause sind darin.“

Ein mobiler Schrank

Seit Ausbruch des Krieges in Gaza werden Taschen nicht mehr für den Urlaub oder für Ausflüge gepackt, sondern für die Flucht vor den Bomben. Diese Reisen sind keine Wahl, sondern erzwungen. Sie haben kein Ziel, keinen Plan und keine Tickets. Al-Scheich, auch bekannt als Um Ahmed [Mutter von Ahmed, Anm. d. Red.], sieht in ihrer Tasche einen „mobilen Schrank“, der alles enthält, was sie aus dem Leben unter ständiger Bedrohung retten konnte.

Eine Tasche, eine Kopie des Korans, Flip-Flops, Kleidung und Dokumente.
Die Tasche von Nima al-Scheich in Gaza: Koran, Schuhe, Kleidung und Dokumente. (Foto: Qantara/Doaa Shaheen)

Die Gegenstände sind nicht zufällig gewählt, sondern reflektieren die Bedürfnisse der Familien und ihre emotionale Bindung zu jedem Stück. Oft waren Entscheidungen, was zurückgelassen werden muss, hart. Die Tasche zu packen ist der Mutter vorbehalten, andere Aufgaben sind auf die Kinder aufgeteilt: Decken tragen, Matratzen, Wasserkanister oder die wenigen Küchenutensilien. 

„Es ist nicht nur eine Tasche – es ist die Zusammenfassung eines ganzen Lebens, das zersplittert ist“, erklärt Um Ahmed. „Es enthält unsere Ausweise, Geburtszertifikate, Medizin und Dinge, an denen ich hänge. Zum Beispiel einen Ring, den mir mein Sohn zu seiner Hochzeit schenkte, ein traditionell besticktes Kleid von meiner Mutter, ein kleiner Koran und eine Gebetskette.“ Die Tasche enthält außerdem Dosen mit Erbsen und dicken Bohnen. 

Mit jeder neuen Vertreibungswelle, die mit Evakuierungsbefehlen der israelischen Armee beginnt, kommt es zu denselben Szenen: Zuerst kommt eine Warnung, dann die Geräusche der Drohnen und ein paar Minuten später sieht man Männer, Frauen und Kinder mit ihren Taschen um ihr Leben rennen. Laut den Vereinten Nationen wurden mindestens 1,9 Millionen Menschen – circa 90 Prozent der Bevölkerung in Gaza – während des Krieges mehrfach vertrieben, manche mussten sich mehr als zehn Mal in Sicherheit bringen. 

Ein Mann ordnet seinen Rucksack, der medizinisches Material und Puppen enthält.
Awadallah ordnet seinen Koffer, der vor allem Babyutensilien enthält (Foto: Qantara/Doaa Shaheen)

„Ich habe nur noch, was in meiner Tasche ist“

Mahmoud Awadallah, 34, heiratete ein Jahr vor Beginn des Krieges. Er träumte damals von der Geborgenheit eines Lebens mit seiner Frau und später mit seiner Tochter Sila. Doch sein Traum ist mit dem Ausbruch des Krieges zum Alptraum geworden. 

„Zu Beginn des Krieges packte meine Frau den schwarzen Rucksack, den wir für unsere Sommerausflüge benutzt hatten, für den Notfall“, erzählt Awadallah. Er und seine kleine Familie hielten es zunächst in ihrer Wohnung im Stadtteil al-Nasr im westlichen Teil von Gaza-Stadt aus, bis zum 6. Januar 2024. An diesem Tag flohen sie in den Süden Richtung Deir al-Balah, inmitten intensiver Bombardierung der umliegenden Straßen.

„Wir rannten unter Beschuss – ich trug die Tasche und mein Baby, meine Frau lief neben mir und konnte kaum mithalten“, erinnert er sich. An diesem Tag vergaß seine Frau in der Eile das Spielzeug der Tochter. Das Kleinkind weinte ununterbrochen. Daraufhin riskierte Awadallah am nächsten Tag sein Leben und schaffte es, das Spielzeug aus der Wohnung zu holen. Seitdem wurde die Familie noch weitere fünf Mal vertrieben, auch ihr Zuhause fiel einige Monate nach ihrer Flucht den Bomben zum Opfer. 

Der schwarze Rucksack enthält eine Packung Babynahrung, Windeln, die Kuscheltiere ihrer Tochter, das Kleid ihres ersten Geburtstags, ein Handyladekabel und einen USB-Stick voller Fotos aus der Zeit der Geburt und von Familienausflügen. 

Ein Rucksack, ein Laptop, ein Ladegerät, eine Flasche Shampoo und Schlüssel.
Die Fluchttasche eines IT-Spezialisten, der aus Dschabalia nach Nuseirat im Zentrum des Gazastreifens vertrieben wurde: Hausschlüssel, Laptop, Ladegerät, Parfüm und Kaffee (Foto: Qantara/Doaa Shaheen).

„Ich hätte mir nie vorstellen können, dass unsere Tasche für Strandausflüge ein Symbol der Vertreibung und des Schmerzes wird“, sagt seine Frau Nasrin. Die 27-Jährige fügt hinzu: „Es gibt kein Make-Up, kein Parfüm oder andere Accessoires, die eine junge Braut sonst mitnehmen würde. Ich habe nicht für einen Ausflug gepackt; ich bin vor dem Tod geflohen.“ Nasrin betrauert den Verlust ihrer Aussteuer und der Möbel, die sie mit mühsam gespartem Geld gekauft hatten. „Ich habe nur noch, was ich in dieser Tasche bei mir trage.“

Awadallah und seine Frau leben heute in einer Notunterkunft in Deir al-Balah. Jedes Mal, wenn er auf ihren schwarzen Rucksack blickt, kommt es ihm vor, als sei die Tasche ihr altes, zusammengefaltetes Zuhause. Das Paar träumt von einem Ende des Krieges, sodass sie ihr Zuhause wieder aufbauen und ihre Tochter in Frieden großziehen können.

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des Arabischen Originals. Übersetzung aus dem Englischen von Clara Taxis.

 

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