Erbarmungslose Vertreibung

„Ich weiß nicht, wo ich morgen sein werde. Es ist diese Ungewissheit, die mich fertig macht“, erklärt Zabihullah*. Der 35-Jährige lebt im pakistanischen Peschawar und versteckt sich derzeit vor der pakistanischen Polizei, um nicht festgenommen und abgeschoben zu werden.
Peschawar liegt unweit der Durand-Linie, der Grenze zu Afghanistan. Gezogen wurde sie vor über 130 Jahren vom britischen Diplomaten Sir Mortimer Durand, der damals Britisch-Indien, das Hoheitsgebiet des Empire, klar von jenem des afghanischen Königreichs trennen wollte.
Millionen von Menschen befanden sich durch die Grenzziehung von einem Tag auf den anderen in einem formal anderen Staat. Afghanistan, ihre Heimat, lag nun auf der anderen Seite. In den darauffolgenden Jahrzehnten entfremdeten sich Familien und ganze Stämme voneinander.
Heute ist die koloniale Grenze Schauplatz einer der größten Massenvertreibungen der Gegenwart. Auch Zabihullah, der afghanische Geflüchtete, soll gehen. In Pakistan, das rund ein halbes Jahrhundert nach der Ziehung der Durand-Linie entstand, gibt es für ihn und hunderttausende Afghanen und Afghaninnen keinen Platz mehr.
Dabei ist Zabihullah in Pakistan aufgewachsen. Seine Familie flüchtete einst vor der sowjetischen Invasion Afghanistans dorthin und fand eine neue Heimat. Bis heute sind ihnen die Straßen Peschawars vertrauter als jene Kabuls.
Kein Dokument schützt vor der Abschiebung
Über Afghanistan weiß Zabihullah nur, dass dort die militant-islamistischen Taliban regieren und ihn wahrscheinlich nicht in Ruhe lassen werden, weil er Musik macht und langes Haar und westliche Kleidung trägt.
„Ich habe versucht, ein neues Visum zu beantragen, doch das wurde abgelehnt. Meine pakistanische ID-Karte ist abgelaufen, doch das spielt keine Rolle mehr. Sie schieben in diesen Tagen jeden ab, den sie kriegen können“, erklärt Zabihullah am Telefon.
Laut IOM wurden zwischen dem 4. April und 3. Mai diesen Jahres mindestens 109.891 afghanische Geflüchtete aus Pakistan abgeschoben. Der Massenabschiebungsplan der Regierung von Premierminister Nawaz Sharif ist allerdings bereits seit 2023 in Kraft.
Wie UNHCR dokumentiert, haben seit September 2023 1.023.100 Afghanen und Afghaninnen Pakistan verlassen. Viele wurden mit roher Gewalt von pakistanischen Sicherheitskräften eingesammelt und über die Grenze gebracht.
In vielen Fällen waren nicht nur Geflüchtete mit sogenannten „Afghan Citizen Cards“ (ACC) betroffen, sondern auch Menschen mit gültigen Aufenthaltspapieren. Bei den ACC handelt es sich um ein temporäres Ausweisdokument, das die pakistanische Regierung an alle afghanischen Geflüchteten verteilt, die nicht offiziell beim UNHCR registriert sind. Die Karte dient der bloßen Identifikation, fungiert weder als Arbeitstitel noch als Weg zur Staatsbürgerschaft oder ähnlichem und bietet somit auch kaum Schutz an.
In mehreren Großstädten fanden Hetzjagden auf Menschen afghanischer Herkunft statt. Besonders verbreitet ist der beleidigende Ausdruck namak haram („undankbar“, „illoyal“), der auch in den sozialen Medien regelmäßig fällt.
Die aktuelle Regierung Pakistans und ihre Anhänger:innen unternehmen kaum etwas gegen den anti-afghanischen Rassismus, während einer ihrer größten Feinde – der auch bei vielen Afghan:innen beliebte Ex-Premierminister Imran Khan – seit Anfang 2024 in Haft sitzt. Schon vor seiner Amtszeit (2018-2022) hatte sich Khan für die Rechte sowie eine schnelle Einbürgerung afghanischer Geflüchteter eingesetzt.
Am afghanischen Grenzort Torkham spielen sich seit letztem Jahr häufig dramatische Szenen ab. Familien mussten sich unter Tränen voneinander verabschieden, haben viele Afghan:innen doch pakistanische Verwandte. Immer wieder protestierten Menschen auch per Sitzstreik gegen die Abschiebemaßnahmen.
Nicht das erste Mal
Für Zabihullah ist das Thema Abschiebung nicht neu. Seine Familie wurde bereits 2016 nach Afghanistan abgeschoben. „Mein alter Vater hatte stets Angst. Er hatte keine Kraft, sich vor der Polizei zu verstecken, weshalb er mit meiner Mutter und meinen Geschwistern freiwillig ging“, erinnert sich Zabihullah. In ihrer Heimat Kabul, wo die Familie heute lebt, kam sie lange Zeit nicht zurecht.
„Die hohe Kriminalitätsrate und Selbstmordanschläge gehörten zum Alltag. Ich hatte stets Angst um meine Kinder“, meint Mohammad Ayub, Zabihullahs Vater, gegenüber Qantara. Als die militant-islamistischen Taliban im August 2021 an die Macht zurückgekehrten, fürchtete die Familie um das Schicksal ihrer Töchter. „Es hieß damals, dass wir unsere Töchter mit Taliban-Kämpfern verheiraten müssen“, sagt Ayub. Zumindest das ist bis heute nicht eingetreten.
In Pakistan versteckt sich Zabihullah weiterhin. Mal bei Freund:innen, mal bei Verwandten, auch er hat pakistanische Familienmitglieder. Er will in „seinem Peschawar“ bleiben, dessen Paschto-Dialekt er am besten beherrscht, und hofft, dass sich die Situation bald bessert.
„Millionen von Afghan:innen leben in Pakistan. Wir sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Man kann nicht einfach alle mit Gewalt abschieben“, meint er. Außerdem, so seine Hoffnung, werde sich Islamabad wohl ohnehin bald mehr auf den Konflikt mit Indien fokussieren müssen.
Vom Kioskbesitzer zum Mittellosen
Für die Familie von Mohammad Shah* käme auch eine Entspannung der Situation zu spät. Vor rund drei Wochen standen plötzlich Polizei und Militär vor seinem Haus in Peschawar. „Sie haben alles durchsucht und wollten unsere Dokumente sehen“, erzählt Shah. Dann wurden sämtliche Informationen und Vermögenswerte notiert. Die Familie besaß in Pakistan nicht nur ein Haus, sondern betrieb auch einen Kiosk.
„Die Soldaten wollten wissen, ob meine Angestellten Afghan:innen oder Pakistanis sind“, so der Händler. Nachdem Shah Letzteres angegeben hatte, ließen die Sicherheitskräfte die Familie fürs Erste in Ruhe.
Doch der Frieden hielt nur wenige Tage. „Eine Woche später waren sie am Vormittag wieder da. Sie traten deutlich brutaler auf, rissen fast unsere Tür ein und schrien uns an“, erinnert sich Shah. Die Sicherheitskräfte befahlen der Familie, nur das Notwendigste einzupacken.
Kurz darauf wurden sie zum Grenzposten Torkham gebracht. „Plötzlich mussten wir gehen“, sagt Shah. Seine ganze Familie besaß gültige UNHCR-Dokumente, doch das interessierte niemanden. Heute lebt die Familie in der nordafghanischen Provinz Kundus, wo sie vorerst bei Verwandten unterkommen. Eine Zukunftsperspektive haben sie dort nicht.
Die Vertreibung schadet allen Beteiligten
„Die große Mehrheit der abgeschobenen Afghan:innen hat kein Hab und Gut in ihrer Heimat. De facto haben die meisten dieser Menschen nichts mehr mit Afghanistan zu tun, denn sie haben einen Großteil ihres Lebens in Pakistan verbracht. Viele sind dort auf die Welt gekommen und sprechen besser Urdu als Farsi oder Paschto“, meint der deutsch-afghanische Anthropologe Sayyed Jalal Shajjan, der einst selbst als Geflüchteter in Pakistan lebte.
Der Wissenschaftler betont, dass die aktuelle Situation in Afghanistan für die Abgeschobenen ihr Schicksal noch erschwert. „Das Taliban-Regime kümmert sich nicht um diese Menschen, während die Präsenz internationaler NGOs im Land in den letzten Jahren massiv zurückgegangen ist. Weder in Afghanistan noch in Pakistan will jemand Verantwortung übernehmen“, so Shajjan.
Kritik formuliert er jedoch vor allem an der Regierung Pakistans: „Afghanische Geflüchtete fanden dort einst ein Zuhause, weil es gemeinsame religiöse und kulturelle Merkmale gab. Pakistan hätte diese Menschen zu treuen Staatsbürger:innen machen können, doch stattdessen hat man sich dazu entschlossen, sie zu vertreiben.“
*Namen aus Sicherheitsgründen geändert
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