Eiserne Faust und blutige Reformen
Es ist eher Beklommenheit als Ruhe, was in der Stadtmitte von Damaskus seit Monaten herrscht, obgleich das Leben dort aus der Ferne betrachtet seinen normalen Gang geht. Aus der Nähe betrachtet aber verbergen sich dahinter Spannungen, wie sie die Bewohner der syrischen Hauptstadt sonst nicht kennen.
Vorsichtig und abwartend zu sein ist etwas, was die Damaszener über Jahrhunderte ererbt haben, und es hat ihnen ermöglicht, bei allen gewaltsamen Umwälzungen, die das Land erlebt hat, zu überleben. Aber seit die Sicherheitslage zuletzt so stark aus den Fugen geraten ist, gehört Zuversicht wohl der Vergangenheit an.
Die Proteste haben mehrere Stadtviertel von Damaskus erreicht, es gab Demonstrationen in Midan und Rukn ad-Din, besonders stark waren sie im Umland und in den Vorstädten wie Duma, Darayya, Muadhammiya, Barze, Qabun, al-Kiswe oder Saqba. Nachrichten aus anderen Städten, Dörfern und Regionen Syriens, die die friedlichen Proteste in der Hauptsache tragen, haben in der Hauptstadt vor allem zu der Schlussfolgerung geführt, dass die bisherige Stabilität Syriens um den Preis des Schweigens erkauft war.
In Damaskus konkurrieren heute zwei Lager. Das eine lässt man nicht demonstrieren, dem anderen erlaubt man es, ja man drängt es dazu: Unterstützer des Regimes füllen die Straßen und Plätze mit Menschenmassen, halten Nationalfahnen und Bilder Assads hoch und skandieren in höchsten Tönen. Ihnen gesteht man den Vorzug zu, für das regimetreue Syrien zu sprechen, die Kameras der syrischen Medien sind immer präsent, und die Polizei legt für sie sogar extra den Verkehr lahm.
Claqueure des Regimes
Angeblich demonstrieren Millionen unter Aufsicht der Sicherheitskräfte – unter ihnen Anhänger der Blockparteien, Beamte und Arbeiter staatlicher Behörden und Betriebe, Angestellte von Privatunternehmen, deren Besitzer mit dem Regime in Verbindung stehen und Kinder von Funktionären in Armee, Staat und Geheimdienst.
Manche von ihnen demonstrieren aus Überzeugung, anderen werden gedrängt oder gezwungen, wieder andere werden dazu verführt, mitzumachen. So stellt sich das Geschehen tagsüber dar. Nachts fahren dieselben Leute mit Autos durch die Nobelviertel von Damaskus und hupen und skandieren Parolen bis spät in die Nacht, manchmal bis zum Morgengrauen. Diese Korsos bestehen aus Luxuskarossen und Mietwagen, aus ihren Fenstern lehnen junge Männer und Frauen in bunter Kleidung, und sie winken so, als wollten sie den Schlafenden und denjenigen, die nicht demonstrieren unablässig drohen.
Eine solche Diskriminierung gab es bis zur Machtübernahme der Baath-Partei nicht. Seit ihrem Putsch von 1963 waren die syrischen Straßen ausschließlich Demonstrationen von Arbeitern, Bauern und Studenten vorbehalten – egal, ob diese freiwillig demonstrieren oder nicht.
Vorher war es in der modernen Geschichte Syriens so, dass sowohl während der osmanischen Herrschaft als auch unter dem französischen Mandat, nach der Unabhängigkeit Syriens und während der darauffolgenden sogenannten Phase der Staatsstreiche Damaskus immer die Stadt war, wo am meisten demonstriert wurde.
In der osmanischen und französischen Zeit starteten die Demonstrationen in der Altstadt in Maktab Anbar, gingen durch die Wohn- und Marktviertel nach Qaimariye, zogen vorbei am Naufara und durch Qabaqibiye und Qawafin durch den Suq al-Hamidiye zum Saraya-Palast, zum Mardje-Platz oder zum Sitz der französischen Verwaltung in Salihiye.
Von Demonstrationen und "fliegenden Protesten"
Nach der Unabhängigkeit und während der Zeit der Militärstreiche bis zur Baath-Herrschaft begannen sie an der Universität oder der Tadjhiz-Schule und endeten beim Parlament. Während des Konfliktes zwischen Baathisten und Nasseristen wurden die Demonstrationszüge häufig eingekesselt, so dass sie nicht starten konnten. An der Tadjhiz-Schule umstellte die Polizei das Gebäude und holte zudem eine Armeeeinheit samt Fahrzeugen und Panzerfahrzeugen zu Hilfe.
Die Soldaten übernahmen die Kampfhandlungen; sie legten sich auf den Boden und zielten auf die Fenster der Schule, während die Schüler das Dach der Schule besetzten, den Boden aufgruben und Steine auf die Armee warfen.
Nicht wenige Soldaten trugen Verletzungen davon, und nachdem der Schulleiter mit der Armee verhandelt hatte, ließ man die demonstrierenden Schüler nach Hause gehen, ohne dass es auch nur einen Toten gegeben hätte. Gab es ein paar Verhaftete, so kamen sie nach wenigen Stunden wieder frei. War die Armee damals nachlässig oder beherrschten die Sicherheitskräfte die Unterdrückung noch nicht?
In der jetzigen Krise gelang es dem Sicherheitsapparat, der Armee, den regimetreuen Shabbiha-Milizen und ihren Unterstützern nicht immer, die Demonstrationen in Teilen von Damaskus zu unterbinden. Diese Proteste waren eher spontane Aktionen, vergleicht man sie mit dem, was hier früher stattgefunden hat. Die Demonstrationen fanden in Form von "fliegenden Proteste" in der Salihiye- und al-Hamra-Straße, in Qanawat, an der Universität und an der Wirtschaftsfakultät statt.
Verhöre, Folter und erzwungene Geständnisse
Einige Dutzend Unbewaffnete forderten Freiheit, und wenn sie ein Stück auf der Straße liefen, dann wurden sie schon nach wenigen Schritten von Bewaffneten gestoppt, die mit Stöcken und Knüppeln und mit Eifer und Hass auf sie einschlugen. Und wenn Krankenwagen kamen, dann entstiegen ihnen weitere Gedungene und Bewaffnete, die selbst Passanten jagten und sie in die Sanitätswagen stießen, nur um sie darin weiter zu verprügeln, bis sie sie in einer Zentrale der Staatssicherheit ablieferten. Dort kam es dann zu Verhören, Folter und erzwungenen Geständnissen.
Kein Freitag vergeht in Syrien mehr ohne Zusammenstöße. Dennoch mag man sich daran erinnern, wie die Damaszener diesen Wochentag traditionell verbracht haben: mit beschaulichen Ausflügen. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, als der Beton noch nicht alles verschlungen hatte, ging man mit Wasserpfeife, leckeren Speisen und Obst in die Ghouta-Gärten nahe Damaskus oder unternahm Ausflüge zu den Gärten von Salihiye, Rabwe und Dummar. Man saß an den Ufern des Barada, in Shadarwan oder im Sufaniye-Park.
Heute haben die jungen Damaszener und Zugezogene, die sich von der Tradition der Ausflüge haben anstecken lassen, den Ausflugsspaß ins Umland dadurch ersetzt, dass sie freitags in Duma, Harasta und Darayya zusammen mit den dortigen Bewohnern friedlich demonstrieren. Sie tun das nicht, weil sie hoffen, dort angstfrei demonstrieren zu können, im Gegenteil: Während sie in der Stadt Knüppel zu spüren bekommen, erwarten sie in den Vorstädten Schüsse.
Blutige Siege lösen kein Problem
So sieht es also aus, das neue, gesetzlich verankerte Demonstrationsrecht, das in Wirklichkeit ein Demonstrationsverbot ist. Das sind also die Reformen, die das Regime in punkto Meinungsfreiheit anbietet. Tatsächlich folgte auf jede Reformankündigung bisher doppelte Gewalt, die jede Reformmaßnahme ihres Inhalts beraubte. Sie erinnert daran, dass die eiserne Faust des Regimes jede Reform zunichte machen kann, noch bevor die Tinte trocken ist, mit der sie formuliert wurde. So blutig, wie diese Reformen in der Realität aussehen, stellen sie lediglich ein Mittel dar, brutalste Gewalt anzuwenden.
Wenn das Regime wirklich Reformen will – und wer weiß, ob die Zeit dafür noch reicht – dann müsste es Opfer bringen, und es müsste vor allem den Sicherheitsapparat opfern, der seinen stärksten und schlagkräftigsten Block darstellt. Das Volk hat unter diesem Apparat gelitten, statt dass er es vor Feinden geschützt hätte. Er hat das Volk unterdrückt und ihm die Würde geraubt.
Es wäre ein Zeichen der Stärke des Regimes, wenn es schnell ernsthafte und spürbare Reformen umsetzte. Dies wäre allerdings auch ein schmerzhaftes Zugeständnis einer Staatsmacht, die immer geglaubt hat, sie sei im Recht, sie könne auf Kritik und gute Ratschläge verzichten und sei nicht rechenschaftspflichtig.
Wenn sie nun Proteste immer brutaler niederschlägt, so heißt dies nicht, dass sie diese ersticken könnte, und wenn sie ihr eigenes Volk besiegt, dann bedeutet das nicht, dass sie im Recht ist. Blutige Siege lösen kein Problem; die Staatsmacht betrügt sich mit ihrer Gewalt selbst. Und Unnachgiebigkeit kann kein Mittel dafür sein, Forderungen aus der Welt zu schaffen, die anerkanntermaßen berechtigt sind. Und selbst wenn man auf eine Lösung durch den Sicherheitsapparat setzt, so rechtfertigt dies keine Maßlosigkeit.
Man hört in Syrien seit vielen Monaten, dass es kein Zurück zu der Zeit davor geben werde. Heute lässt sich dies nur noch so interpretieren, dass das Regime nie mehr aufhören wird, die Proteste niederzuschlagen und die Demonstranten nie aufhören werden zu protestieren. Am Anfang gab es viele Befürchtungen, aber auch große Hoffnungen. Heute ertrinkt der Optimismus in Blut.
Fawwaz Haddad
© Qantara.de 2011
Aus dem Arabischen von Günther Orth
Der syrische Schriftsteller Fawwaz Haddad lebt in Damaskus. Sein zehnter Roman ("Soldaten Gottes") erscheint im kommenden Jahr auf Deutsch.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de