„Ob Mohammed oder Marx die Lorbeeren ernten, ist egal“

Qantara: Herr Hadaya, Sie glauben an das „Brücken bauen“ als Garant für den Frieden. Wie gehen Sie dabei vor?
Sami Hadaya: Ich bin Mitglied einer Gruppe namens Wasl, die sich für den zivilen Frieden einsetzt. Wir versuchen, den Dialog zwischen Leuten aus Gebieten Syriens zu fördern, die in den letzten 14 Jahren völlig voneinander isoliert waren. Wasl besteht aus über 130 Personen, die entweder unabhängig aktiv sind oder führende Positionen in zivilgesellschaftlichen Organisationen und politischen Parteien innehaben. Alle bringen ihr Fachwissen ein.
Mit Wasl ist unser Ziel nicht Repräsentation, sondern aktives und effektives Handeln sowie die Bündelung von Ressourcen. Wir haben Arbeitsgruppen für Advocacy-Arbeit, humanitäre Hilfe und den Dialog zwischen gesellschaftlichen Gruppen, außerdem Teams für jede Region. Wir versuchen, das zivile und politische Engagement auf den gesellschaftlichen Frieden auszurichten.
Wie hat Wasl auf die Massaker an der Küste im März reagiert?
Wir haben eine Delegation mit Mitgliedern aus verschiedenen konfessionellen und regionalen Gruppen in die Region geschickt, um die Opfer und ihre Familien zu unterstützen. Für diese Menschen an der Küste war es unerwartet, dass ein Sunnit aus Daraa auftaucht, um mit ihnen das Massaker zu betrauern. Unsere Delegation besuchte mehr als 20 Familien in Tartus, Latakia, Banjas und Dschableh. Delegierte aus Daraa, Suweida, Homs und Hama hörten sich ihre Geschichten an und drückten ihre uneingeschränkte Solidarität aus.
Von dort reiste die Delegation – darunter auch Genoss:innen von der Küste – nach Idlib und Dschisr al-Schughur, um den Familien jener Sicherheitskräfte Trost zu spenden, die ebenfalls an der Küste, aber von übergebliebenen Anhängern des alten Regimes getötet worden waren.

Warum ist es so wichtig, den Schmerz der anderen anzuerkennen?
Wir müssen uns bewusst machen, dass wir als Syrer:innen alle gelitten haben. Unser Leid unterscheidet sich, aber es steht nicht in Konkurrenz zueinander. Nach den Massakern an der Küste ging es vielen Syrer:innen schlecht. Etwas in ihnen zerbrach. Sie hatten diese Dinge schon zuvor erlebt: Menschen werden getötet, ganze Familien massakriert, Häuser niedergebrannt, Menschen verlieren ihr Zuhause. Wir dachten, dieses Kapitel sei mit dem Sturz des Regimes abgeschlossen – und plötzlich bricht es wieder auf. Wir als Mitglieder von Wasl sind überzeugt: Wenn das Blut einer Gruppe vergossen wird, ist es das Blut aller in Syrien.
Sie zitieren einen Freund, der sagte, die Syrer:innen hätten nie wirklich die Möglichkeit gehabt, einander kennenzulernen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Daran, dass wir ein Regime hatten, das die syrische Bevölkerung spalten wollte. Das Assad-Regime steckte viel Energie in das Vertiefen immer neuer Gräben durch die syrische Gesellschaft. Und das nicht nur entlang konfessioneller, sondern auch entlang von Stammesgrenzen oder sogar innerhalb von Familienstrukturen. Ziel war es, ein starkes Misstrauen in der Gesellschaft zu schüren und dadurch die Loyalität gegenüber Assad zu fördern. Die Menschen in Syrien hatten Angst vor ihren eigenen Geschwistern und suchten Schutz beim Regime.
Viele Menschen sind überzeugt, dass das Assad-Regime die Alawit:innen bevorzugt hat. Sehen Sie das ähnlich?
Ich glaube nicht, dass das Regime jemals Loyalität gegenüber den Alawit:innen als Sekte empfand oder Hass auf die Sunnit:innen hegte. Ihm ging es nur um autoritäre Herrschaft. Die konfessionelle Aufrüstung des Konflikts war eine Strategie, um das Regime am Leben zu erhalten. Daher wurde schon in der Frühphase des Aufstands jede Demonstration in einem mehrheitlich sunnitischen Gebiet mit scharfer Munition beantwortet.
Demonstrationen in Gebieten mit drusischer oder ismailitischer Mehrheit wurden teilweise erlaubt und wenn, dann mit weniger Gewalt beantwortet. Assad wollte, dass sunnitische Demonstrant:innen in Reaktion auf die existenzielle Bedrohung, in der sie sich befanden, zu den Waffen griffen. Im Gegenzug sollte diese Militarisierung dazu führen, dass sich Minderheiten von der Revolution ausgeschlossen und bedroht fühlten. Im Endeffekt führte dies zu einer Entfremdung.

Clash der Barbareien
Dass Assad es geschafft hat, Syrien niederzubrennen, ist auch das Ergebnis eines historischen Umstands: des sunnitisch-schiitischen Gegensatzes, der wiederum durch die US-Invasion im Irak befeuert wurde. Ein Essay des libanesischen Schriftstellers Elias Khoury.
Wie würden Sie derzeit das Verhältnis zwischen der Linken und dem politischen Islam in Syrien beschreiben?
Ich bin etwas enttäuscht von gewissen Kreisen der Linken. Manche sehen den politischen Islam als absoluten Feind. Ich bin gegen diese ausgrenzende Haltung. Wie können wir Islamisten dazu auffordern, inklusiv zu sein, wenn wir es nicht sind?
Ich persönlich habe mich zum ersten Mal mit dem politischen Islam versöhnt. Mir wurde klar, dass progressive Politik in allen Bereichen möglich ist und dass der politische Islam nicht grundsätzlich falsch ist. Es gibt problematische Strömungen wie den Salafismus, der ultrakonservativ und ausgrenzend ist, genau wie es den Stalinismus innerhalb der Linken gibt.
Sind Sie also unabhängig von der Ideologie für eine Zusammenarbeit offen?
Für mich und mein Umfeld sind die individuellen oder politischen Freiheiten unverhandelbar, insbesondere angesichts des hohen Preises, den wir für sie gezahlt haben. Als Anhänger von Demokratie und Pluralismus bin ich jedoch bereit, progressive Stimmen innerhalb des politischen Islam zu unterstützen, in der Hoffnung, im Diskurs Raum zu schaffen, der für die Linke nützlich ist. Mir ist es wichtig, die materielle Situation der Menschen zu verbessern. Ob Mohammed oder Marx dafür die Lorbeeren ernten, ist mir egal.
Also ja, ich bin offen für eine Zusammenarbeit, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind – dass wir nicht auf einen Bürgerkrieg oder eine Spaltung des Landes zusteuern. Nach den Erfahrungen der letzten 14 Jahre haben wir gelernt, pragmatisch zu sein. Wir müssen Einheit erreichen und eine nationale Identität aufbauen.
Wo sehen Sie mögliche Überschneidungen oder Lernpotenziale zwischen den politischen Ideen der Linken und dem politischen Islam?
Ich denke, die Linke in unserer Region hat es nicht geschafft, eigene Konzepte und Theorien zu entwickeln. Sie hat die meisten ihrer konzeptionellen Strukturen aus dem Westen importiert. Es bedarf einer gründlichen intellektuellen Überarbeitung, um Aspekte zu finden, die in der Geschichte der Region verwurzelt sind.
Wir trafen beispielsweise in Damaskus andere Linke, die in der Hausbesetzerbewegung in Griechenland aktiv gewesen sind. Sie schlugen unter anderem vor, die Häuser von Leuten im Exil zu besetzen und in ihnen Vertriebene aus Flüchtlingslagern unterzubringen. Angesichts der jüngsten Geschichte von Zwangsvertreibung und Landnahmen durch das Regime, stieß dieser Vorschlag auf Widerstand.
Stattdessen schlug jemand das Konzept des Waqf vor. In islamischen Imperien war es so etwas wie öffentliches Eigentum. Besitzer:innen von Grund und Boden konnten ihre Häuser dem Staat zur Verwaltung überlassen, manchmal auch vorübergehend, mit der Garantie, dass sie an die ursprünglichen Eigentümer:innen zurückgegeben würden. In der Zwischenzeit wurde das Haus an Bedürftige vergeben.

Säkularismus – "eine andere Ideologie"?
In seinem Essay räumt der syrische Publizist und Schriftsteller Hammud Hammud mit gängigen islamistischen Vorurteilen gegen das Konzept des Säkularismus auf und geht der Ambivalenz von politischem Islam und arabischem Nationalismus auf den Grund.
Gibt es Staaten in der Region, von denen Syrien etwas lernen könnte?
In Ägypten gab es zeitweise einen ganz ähnlichen Kontext. Aus großer Angst vor dem politischen Islam unterstützte man in Ägypten schließlich eine Militärdiktatur. Diese Dichotomie müssen wir als Region überwinden. Übertriebene Angst vor dem politischen Islam ermöglichte das Überleben der Militärdiktaturen in der Region. Mir ist sehr daran gelegen, eine positive Geschichte über den politischen Islam zu erzählen. Lassen Sie uns doch nur eine Erfolgsgeschichte! Das könnte diese Dichotomie durchbrechen und eine Demokratisierungswelle in der Region auslösen.
Wie beurteilen Sie das bisherige Vorgehen der Übergangsregierung?
Aufgrund der Vergangenheit Ahmed al-Scharaas sehe ich hier ein potenziell diktatorisches Projekt. Ich bin überzeugt, dass es von Anfang an ein Ein-Mann-Projekt war. Ob im irakischen Teil des IS, in der al-Nusra-Front oder bei Hay’at Tahrir al-Scham: al-Scharaa hat nie jemanden auf Augenhöhe akzeptiert. Wenn ich so rational denke wie möglich, sehe ich auch positive Aspekte: er ist sowohl politisch klug als auch realistisch.
Sollte er mehr am Regieren interessiert sein, als an der Ideologie, dann wird sein Hauptaugenmerk auf dem Machtgleichgewicht im Land liegen. Das zeigt sich schon in den widersprüchlichen Entwicklungen der letzten Monate: Massaker an der Küste und dann Verhandlungen mit den kurdisch dominierten Syrisch Demokratischen Kräften (SDF); eine Verfassungserklärung ohne inklusive Elemente und dann ein relativ inklusives Kabinett. Diese Widersprüche sind nicht willkürlich – sie zeigen vielmehr, dass die Regierung jedem Teil der Gesellschaft etwas anbieten will.
Was erwarten Sie von den kommenden Monaten?
Ich hoffe, dass wir einen inklusiven Staat errichten können, der alle Teile der syrischen Gesellschaft repräsentiert und uns vor dem schlimmsten Szenario eines Bürgerkriegs oder einer Spaltung bewahrt. Ich denke, wir alle spüren eine existenzielle Bedrohung: Das Land in seiner jetzigen Form könnte in Zukunft nicht mehr existieren oder es könnte zu einem Bürgerkrieg kommen, der auch Gebiete betrifft, die bisher verschont geblieben sind.
Es wäre eine Schande, wenn die erste Chance, die wir als syrisches Volk haben, einen Staat und eine nationale Identität aufzubauen, in einer Rückkehr zur Gewalt der letzten 14 Jahre enden würde. Wir haben jetzt fünf Jahre Zeit, um den Weg für Demokratie und eine dezentralisierte Regierungsführung zu ebnen. Als syrische Linke müssen wir diese Zeit nutzen und ein möglichst breites Spektrum der syrischen Bevölkerung ansprechen. Wir müssen Brücken bauen – sollte die Regierung zur Repression greifen, wollen wir politisch stark genug sein, um dem etwas entgegenzusetzen.
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Clara Taxis.
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