Islam übersetzen

Wie können sich die muslimischen Gesellschaften aus ihrer geistigen Erstarrung befreien, damit eine neue Dynamik im gegenwärtigen islamischen Denken entsteht? Von Zafer Şenocak

Wie können sich die muslimischen Gesellschaften aus ihrer geistigen Erstarrung befreien, damit eine neue Dynamik im islamischen Denken entsteht, die mit den Denkstrukturen ihrer Zeit in Austausch treten kann, fragt der türkischstämmige Publizist Zafer Şenocak in seinem Essay.

Gläubige Muslime in der Fatih-Moschee in Essen; Foto: dpa
Der Islam ist in der Moderne sprachlos geblieben. Er hat einen apologetischen Charakter angenommen, der reaktiv, aber nicht innovativ ist, schreibt Şenocak

​​Die gegenwärtige Wahrnehmung des Islam basiert auf wenigen, dafür aber aussagekräftigen Symbolen. Vor allem das Tuch für die Frau erfüllt die Funktion eines Körper und Identität bestimmenden, Grenzen markierenden Symbols.

Selbstbestimmte Abschottung und fremdbestimmte Ausgrenzung der Frau überlagern sich. Das Tuch überschattet die Debatten über die Rollen der Geschlechter und ihr Verhältnis zueinander.

Der Islam war schon immer eine Religion der Vorschriften, mit dem Anspruch, Leben und Alltag des Gläubigen bis ins Detail zu regeln. Dennoch hatte diese Weltreligion auch eine geistige, ja poetische Dimension, die heute vollkommen in den Hintergrund geraten ist, weshalb nur das Skelett aus Ge- und Verboten intakt geblieben zu sein scheint.

Einstige muslimisch inspirierte Denkfabriken wie Toledo und Cordoba im maurischen Spanien oder Konya im seldschukischen Anatolien, wo die monotheistischen Religionen miteinander in Berührung kamen, ohne einander den Garaus zu machen, wo freisinniger Austausch über das menschliche Dasein, über Schöpfung, über das Verhältnis des Menschen zu Gott möglich war und schöngeistige Literatur und Philosophie hervorbrachte, sie haben längst keine Ausstrahlungskraft mehr im mediengerechten Bilderkrieg unserer Zeit.

Ritualisierung als Folge geistiger Austrocknung

Muslimische Philosophen sind im Kanon der abendländischen Philosophie eine exotische Rarität. Eine Philosophiegeschichte des Morgenlandes, die in der Lage wäre, Denktraditionen vergangener Epochen zu vermitteln, sucht man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vergebens.

Tasawwuf, die islamische Mystik, deren Stern einst hoch über dem morgenländischen Himmel leuchtete und vor allem Poesie von weltumspannender Bedeutung, wie die von Dschalaladdin Rumi hervorbrachte, dient heute eher als einträgliche Einnahmequelle für Geschäftemacher, die im spirituell unterversorgten Westen auf Seelenfang gehen.

Zafer Şenocak; Foto: Kubiss.de
Zafer Şenocak

​​Nicht mit geringem Erfolg. In den islamischen Ländern ist die mystische Tradition längst keine Inspirationsquelle mehr, sondern ein formelhaftes Ritual. Die Ritualisierung ist eine Folge der geistigen Austrocknung, oftmals beschrieben als die "Krise des Islam".
Doch wie kann die heutige Situation der Erstarrung überwunden werden? Manche Soziologen gehen davon aus, dass schon die Übernahme moderner Lebensformen und die überall gleich mahlenden Mühlen des Alltags zur unvermeidlichen Integration der Muslime in die moderne Zeit führen.

Doch die Frage, ob eine muslimische Frau mit Kopftuch in die Arbeitswelt integriert ist, sagt noch nichts über ihr geistiges Verhältnis zu ihrem Glauben aus. Ebenso wenig die Tatsache, dass die Zahl der Akademiker muslimischen Glaubens in den letzten Jahrzehnten sprunghaft angestiegen ist.

Abschottung gegenüber der Moderne

Die meisten Muslime wenden sich technischen Berufen zu. Sie schotten sich gegenüber der kulturellen und geistigen Moderne ab.

Ein muslimischer Marsch durch die Institutionen hätte nur emanzipatorischen Charakter, wenn er das geistige Ghetto durchbricht, ein kritisches Verhältnis zur eigenen Tradition herbeiführt und das Verhältnis gegenüber Andersgläubigen und Nichtgläubigen zur Diskussion stellt. Ansonsten fände eher eine stille Unterwanderung der Moderne statt, die den Weg zu zukünftigen Konflikten mit der offenen Gesellschaft bahnt.

Wie kann eine neue Dynamik im islamischen Denken entstehen, damit es mit den Denkstrukturen ihrer Zeit und Welt in Aktion treten kann? Das ist die Kernfrage jeden Dialogs zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Denn ein Denken, das nicht mehr kommunizieren kann, ist auch nicht dialogfähig.

Kommunikation aber setzt Sprache voraus, die auch von anderen verstanden wird. Sie baut auf einer übersetzerischen Tätigkeit auf. Tradition, die nicht übersetzt wird, erstarrt zum Ritual. Das Ritual lässt sich weder kommunizieren noch hinterfragen.

Den Muslimen von heute geht eine solche übersetzerische Leistung ab. Ihr Glaube ist in der Moderne sprachlos geblieben. Er hat einen apologetischen Charakter angenommen, der reaktiv, aber nicht innovativ ist.

Hätte es nicht Denker wie Martin Buber, Franz Rosenzweig oder Emmanuel Lévinas gegeben, die eine enorme übersetzerische Leistung zwischen der chassidischen Literatur, dem Talmud und der abendländischen Philosophie unternommen haben, stünde die jüdische Religion heute vor ähnlichen Problemen wie der Islam.

Sicherlich gibt es auch im gegenwärtigen Judentum streng dogmatische, orthodoxe und fundamentalistisch orientierte Strömungen. Dennoch ist es den oben genannten Denkern gelungen, Fenster zu öffnen zur Außenwelt.

Die Dominanz der Ewiggestrigen

Sie bilden eine Kommunikationsachse des Judentums, die es Christen, Muslimen, Agnostikern und Atheisten, letztendlich allen Zeitgenossen, unabhängig von ihrer religiösen Prägung, ermöglicht, in einen geistigen Austausch mit ihnen zu treten. Allein ein solcher geistiger Austausch kann die Grundlage eines fruchtbaren Dialogs sein.

Wie aber treten die Muslime heute auf? In der Öffentlichkeit der westlichen Welt dominieren die fundamentalistischen Eiferer und die Funktionäre mit Vereinsmentalität. Denker sind rar. Eine Sprache, die zum kontroversen Denken anregt, ist ebenso wenig vorhanden wie ein Stern der Erlösung.

Dabei bildete das Gespräch, der Gedankenaustausch einst die Grundsäule der muslimischen Glaubenswelt. Selbst die überlieferten Sprüche des Propheten Mohammed weisen eine dialogische Form auf. Der Islam ist die Religion des Austauschs, der Überzeugung und des Überzeugens, und keineswegs die des Zwangs.

Muslimische Kultur war in ihren Anfängen aufnahmefähig, für andere monotheistische Glaubensformen, für die Kultur Persiens und Indiens. Sie hat sich inspirieren und kritisch hinterfragen lassen.

Unter Übersetzung verstehen die meisten Muslime von heute nicht die hermeneutische Deutung einer Wirklichkeit, einer Sprache in einer anderen Wirklichkeit oder Sprache, sondern eine photomechanische Übertragung beispielsweise der koranischen Gesetze auf die heutigen Gesellschaften.

Verkürzung auf das "goldene Zeitalter des Islam"

Das führt zu seltsamen, karikaturhaften Erscheinungsformen des Islam, Die Glorifizierung ferner Zeiten ist die Medizin aller an ihrer Zeit Leidenden. Doch sie bringt keine Heilung der Verhältnisse, sondern sie entsorgt mit dem Leiden an der Zeit auch das Gefühl für die Zeit.

Ist das Zeitgefühl einmal verloren, lässt sich auch keine Sprache für die Gegenwart finden, die das Unbehagen ausdrücken könnte. Dementsprechend ist trotz der radikalen Ablehnung der westlichen Kultur eine islamisch motivierte kulturkritische Schrift über die abendländische Moderne ebenso ausgeblieben, wie eine melancholische Literatur, die die Tiefen der islamischen Psyche zu ergründen imstande wäre.

Der Koran gilt den Muslimen als Gottes Wort, heilige Schrift, Kernstück ihres Glaubens, Richtschnur im Leben. Er steht ähnlich wie die Jesusfigur für die gläubigen Christen außer Diskussion. Dennoch gab es schon in der frühen Phase der muslimischen Kultur und selbstverständlich zu Zeiten ihrer geistigen Blüte heftige und kontroverse Debatten über einen hermeneutischen Umgang mit dem Text des Koran.

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Wie sollte auch ein Text ohne seine Deutungsvielfalt diskutiert und studiert werden können? Eine Ästhetik, die um den Koran herum entstand, ermöglichte auch solch eine Bigotterie, die für die muslimischen Gesellschaften von heute prägend geworden ist.

Im sakralen Gefängnis

Man bewundert die Kalligraphie, die Intonation des Vortrags. Die Bedeutung des Textes gerät dabei in den Hintergrund. Der Koran steckt in einem sakralen Gefängnis, wie eine Nachtigall in ihrem goldenen Käfig. Muslimische Philosophen aber beschäftigte einst durchaus die Frage nach den Deutungsmöglichkeiten, nach der ewigen Gültigkeit von Vorschriften, nach dem Geist des Wortes.

Die Bedingungen des Verstehens, des menschlichen Erfassens göttlicher Botschaft warfen philosophische Fragen auf. Eine Unterscheidung wurde getroffen zwischen der Sprache Gottes, dem ewigen in Ihm ruhenden Wort und der menschlichen Lesart, dem Text des Koran.

Der göttliche Sinn konnte erahnt, aber nicht vom Menschen erfasst werden. In der islamischen Mystik bedeutet Erleuchtung, dem göttlichen Sinn nahe kommen, bei Gott sein.

Die heutigen integralistischen Deutungen des Islam wollen nun den Koran buchstabengetreu interpretieren. Sie leugnen den verborgenen göttlichen Sinn, heben die Deutungsvielfalt auf und erklären die menschliche Lesart zum heiligen, ewig gültigen Text.

Begeht man damit nicht einen Kardinalfehler? Denn nichts ist im Islam verwerflicher als die Vergöttlichung des Menschen. Die Wahrheit liegt bei Gott. Der Mensch aber ist ein nach Wahrheit Suchender.

Die Wiederentdeckung menschlicher Bescheidenheit, des Zweifels und der Bedeutungsvielfalt des Wortes, der Vergänglichkeit von Deutung und Interpretation sind Grundlagen eines kritischen Denkens, das in der islamischen Kultur wieder etabliert werden müsste.

Nur wer an seiner eigenen Deutung zweifelt, kann zur Erkenntnis gelangen. Nur durch die Pluralität von Meinungen und Ansichten entsteht eine kommunikative Atmosphäre, die den Dialog mit einem Anderen ermöglicht.

Glauben existiert nur auf der Basis von Übersetzung. Die Übersetzung zwischen Gott und Mensch ist der Urtext für jegliche kommunikative Handlung. Wer nicht kommunizieren kann, droht an seiner Sprachnot zu ersticken.

Zafer Şenocak

© Qantara.de 2006

(Auszug aus Zafer Şenocaks neuem Buch: "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch", Babel Verlag 2006, München, 218 Seiten)

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