Kein Pendant in Sicht
Im Zuge des epochalen Bewusstseinsschocks nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nahm die internationale Debatte über die Rolle der türkischen Republik als zivilisatorisches Entwicklungsmodell für die Modernisierung der islamisch geprägten Länder im Mittleren Osten sowohl auf akademischer Ebene als auch auf Ebene der Entscheidungseliten und der ihnen nahestehenden Think-Tanks deutlich an Intensität zu.
Seitdem wird der Modellcharakter der Türkei für einen moderaten Islam als potentieller Partner für den Westen in einer Allianz für Frieden und gegen globale Gefahren sowie als Mittelweg zwischen radikalem Islamismus und einem wenig glaubwürdigen "Staatsislam" immer von westlichen Politikern, aber auch von Vertretern eines religiös-demokratischen Konservatismus in der türkischen AKP-Regierung hervorgehoben.
Auch US-Präsident Barack Obama scheint die weltpolitische Dimension eines funktionierenden und glaubwürdigen "Modellstaats" für die Vereinbarkeit von Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit – allesamt genuine Errungenschaften der westlich geprägten Moderne – mit dem Islam erkannt zu haben. Anscheinend davon angetrieben, hat Obama bei seinem Türkei-Besuch im April 2009 für die Aufnahme des mehrheitlich muslimischen Landes in die Europäische Union plädiert.
Die Türkei als islamischer Sonderfall
Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass diese Sichtweise die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in der heutigen Türkei und in den meisten arabischen Staaten nicht gebührend berücksichtigt. Zudem stellt die Türkei innerhalb der islamischen Welt in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall dar: Neben Indonesien ist sie eine der wenigen funktionierenden muslimisch-säkularen Demokratien – wenn auch noch mit unleugbaren Defiziten. Und sie ist eines der wenigen Ländern in der islamischen Staatengemeinschaft, in der der Islam nicht als Staatsreligion beziehungsweise als zentrale Quelle der Gesetzgebung institutionalisiert wurde.
Gleichzeitig ist der Laizismus als das wichtigste Leitprinzip der Republik in der türkischen Verfassung fest verankert. Hinzu kommt, dass in keinem anderen Staat mit überwiegend muslimischer Bevölkerung die Religion so sehr aus dem öffentlichen und politischen Leben verdrängt worden ist.
Umstrittene Rolle des Militärs
Bis zu den großen Reformen der Regierungspartei AKP (2002 bis 2005) war es kaum möglich, die Türkei als einen "echten" Modellstaat für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam in der arabischen Welt glaubwürdig zu präsentieren. Denn die demokratischen Defizite des Landes waren allzu offensichtlich, insbesondere, was die Rolle der türkischen Streitkräfte im politischen Entscheidungsfindungsprozess anbelangt.
Zwar wird die Rolle des türkischen Militärs vom Großteil der türkischen Bevölkerung immer noch positiv gesehen, und anders als in nahezu allen arabischen Nachbarstaaten haben die türkischen Streitkräfte nie die dauerhafte Errichtung einer Militärdiktatur angestrebt.
Jedoch wurde die Türkei in den arabischen Ländern angesichts der Machtfülle der Generäle und deren Westorientierung in erster Linie als eine vom Westen gesteuerte "Militär-Demokratie" wahrgenommen, die seit der Abschaffung des osmanischen Kalifats und der gewaltsamen Säkularisierung von oben eine schwere Identitätskrise durchlebt.
Die streng laizistische politische Ordnung in der Türkei trägt darüber hinaus aus konservativer arabischer Sicht zur Festigung dieser falschen Vorstellungen bei, wie sich beispielsweise am Kopftuchverbot an den Universitäten zeigt. Das Verbot wurde zwar 2008 aufgehoben, aber es hat das Bild der Türkei als "religionsfeindliches Land" in der arabischen Öffentlichkeit nachhaltig geprägt. Zur arabisch-türkischen Entfremdung trug ohne Zweifel auch das offenkundige Desinteresse der Republikgründer an einem Engagement in der Region bei, die sie als rückständig betrachteten.
Erst durch den Beschluss des türkischen Parlaments Anfang März 2003, mit dem die Unterstützung der US-amerikanischen Streitkräfte bei der Invasion im Irak abgelehnt wurde, kam es zu einem historischen Wendepunkt für das Türkeibild der Araber. Die US-Regierung musste dieses Votum akzeptieren, denn es kam von einem echten, aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen Parlament.
In der arabischen Welt waren sowohl die Massen als auch große Teile der konservativen Eliten voller Bewunderung für diese Haltung. Bemerkenswert waren vor allem die positiven Reaktionen gemäßigter Islamisten im "Herzland des Islam", Saudi-Arabien, auf das gelungene "AKP-Experiment": Viele arabische Kommentatoren sahen darin eine Ermutigung für arabische Islamisten, sich zu reformieren und am politischen Prozess zu partizipieren.
Die AKP: kein Modell für arabische Islamisten
Doch diese plötzliche Begeisterung für die Erfolge der AKP konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zweifelsohne bemerkenswerten türkischen Erfahrungen im Umgang mit dem Islamismus sich auf keinen arabischen Staat und auch nicht auf deren islamischen (bzw. islamistischen) Akteure übertragen lassen.
Außerdem ist eine mögliche Vorbildfunktion der AKP bereits dadurch eingeschränkt, dass sich die politischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen in der heutigen Türkei von denen in den verschiedenen arabischen Staaten grundlegend unterscheiden: Im Gegensatz zu den arabischen Staaten hat die türkische Republik bereits eine demokratische Tradition.
Diese schließt nicht nur den Respekt vor dem politischen System und seinen Institutionen ein, der von den politischen Akteuren im Laufe der Geschichte der Republik grundsätzlich entgegengebracht wurde, sondern auch den im Vergleich zu den arabischen Staaten liberalen und kritischen öffentlichen Diskurs, der für eine demokratische politische Kultur von essentieller Bedeutung ist.
Überdies hat die türkische Demokratie die Entstehung der AKP erst möglich gemacht hat – und damit den (Post-)Islamisten die Chance zu politischer Entfaltung und Reifung in Richtung einer verantwortungsbewussten und berechenbaren Regierungspartei eröffnet.
Eine weitere Besonderheit ist, dass sich die politische Militärelite in der Türkei generell tolerant gegenüber den islamistischen Kräften im eigenen Land verhalten hat. Sie ließen ihren internen Diskurs entfalten, auch wenn ihnen beim vermeintlichen Griff nach der Macht stets ein Riegel vorgeschoben wurde. Derartige Entfaltungsmöglichkeiten hatten arabische Islamisten bis dato nicht. Heute sind autoritäre arabische Regime das Haupthindernis für die politische Weiterentwicklung der islamistischen Parteien, die in erster Linie damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern. Das bedeutet, dass die Reife dieser Bewegungen einige Bedingungen voraussetzt – vor allem die Notwendigkeit der herrschenden arabischen Machteliten, grundlegende politische Reformen anzustoßen, um ein Minimum an demokratischen Freiheiten und Partizipationsmöglichkeiten zu gewährleisten.
Ein weiterer zentraler Gesichtspunkt ist der ökonomische Vorsprung, den die türkische Handelsnation gegenüber den meisten arabischen Staaten heute genießt. Der Aufschwung des "starken Mannes vom Bosporus" hat auch die Entstehung einer neuen großstädtischen Elite ermöglicht: In der Türkei gewinnt nämlich ein religiöser, aber weitgehend pragmatischer Mittelstand zunehmend an Gewicht. Diese neue anatolische Elite bezieht sich in ihrer Handlungsethik auf den Islam, setzt sich zugleich für den freien Markt und das Einhalten der good governance-Standards ein.
Im Gegensatz dazu halten die meisten arabischen islamistischen Parteien nach wie vor an überkommenen ideologischen Konzepten und historischen Narrativen fest – ohne Aussicht auf echte politische Partizipation und Transformation in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Loay Mudhoon
© Loay Mudhoon/Qantara.de 2010
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de